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Gustav Metzger, South Bank Demonstration, London 1961
gesprochen, »ein Zimmer für sich aliein« zu haben; Don't
Believe l’m an Arnazon (1975) halte ich jedoch für ihr in dieser
Hinsicht eloquentestes Werk. Darin konfrontierte Rosenbach
zwei stereotype Darstellungsformen der Frau: die reine
Mutter/Madonna und die kriegerische, maskuline (sprich les
bische) Amazone. Die Künstlerin schoß mit Pfeilen auf eine
Zielscheibe, die mit einer Schwarzweißreproduktion von
Stephan Lochners berühmtem Gemälde Madonna mit Kind
bezogen war. Gleichzeitig wurde Rosenbachs Aktion mit einer
Videokamera durch ein viereckiges Loch in der Mitte der
Zielscheibe gefilmt. In einem späteren Video der Performance
»wird das Bild der Pfeile schießenden Rosenbach über das
Bild der Madonna projiziert«.'’^
1971, im selben Jahr, in dem Linda Montane sich als non
nenartiger »Living Angel« (Lebender Engel) präsentierte, taufte
sich Orlan in St.Orlan um und begann, ihren Körper in die
kunstvollsten barocken Gewänder zu hüllen und in lebenden
Bildern zu posieren. Auch der Name »Orlan« stand eigentlich
für eine fiktive Identität, die die Künstlerin vermutlich bereits
als Teenager angenommen hatte. 1990 startete Orlan mit
The Reincarnation of St. Orlan die erste einer Reihe von
Schönheitsoperationen - Performances, die die Künstlerin
Schritt für Schritt in das männliche Ideal weiblicher Schön
heit verwandeln sollten, das auf der Vorlage von fünf sorg
fältig ausgewählten berühmten Renaissance- und Barock-
Gemälden basierte; die Nase von Diana (eine nicht zuweis-
bare Skulptur aus der Schule von Fontainebleau), der Mund
von Bouchers Europa, die Stirn von Da Vincis Mona Lisa, das
Kinn von Botticellis Venus und die Augen von Gerömes
Psyche.'
Elaine Scarry stellt die These auf, daß »der einzige Zustand,
der dem Schmerz in seiner Abnormität gleichkommt, die
Phantasie ist«, und daß »sich der Zustand des Schmerzes
durch das Fehlen jeglichen Objekts auszeichnet, wohingegen
die Phantasie der einzige Zustand ist, der gänzlich aus seinen
Objekten besteht.«’”' Imaginäre und echte Wunden-verbun
den (wie in Onos Conversation Piece) oder blutend (wie in den
vielen masochistischen Aktionen Gina Panes) - sind Ausdruck
echten psycho-physischen Schmerzes. Diese Aktionen
erzählen vom Leiden, verleihen ihm Gestalt. Sie beschreiben
den unsäglichen Zustand, in dem sich das Innenleben einer
Frau befinden kann. Indem sie diese psychisch zerstörenden
Verletzungen zum Ausdruck bringen, verschaffen sich die
Künstlerinnen eine Stimme, durch die sie wieder ein konkre
tes Gefühl von persönlicher Erfahrung und Selbstintegrität
äußern und erleben können. Noch dringlicher ist jedoch
das Bedürfnis, anderen ihre innere Realität mitzuteilen -
sie zu materialisieren. Schmerz und Trauma brauchen Zeu
gen, die an der identitätsspaltenden weiblichen Erfahrung
von Vergewaltigung und Zerstörung durch das Patriarchat
teilhaben. In solchen Performances liefern die Körper der
Frauen dem Betrachter Beweismaterial. Feministische Perfor
mance-Künstlerinnen haben körperliche Darstellungen
der mannigfaltigen Widersprüche jener Unterdrückung und
jenes Leids geschaffen, die es bedeutet, eine Frau im
Reich des Patriarchats zu sein, und dabei eine visuelle
Sprache entwickelt, die quer durch die politische Bewe
gung des Feminismus zu sehen und zu hören ist und bis
heute fortbesteht.”“*
VI. DIAS
1959 verfaßte Gustav Metzger das erste von fünf Manifesten,
die die Grundlage der »Auto-Destructive Art« darstellten.’”' Zu
dem Zeitpunkt, als auch die ersten Happenings stattfanden,
brachte Metzger systematisch eine Theorie und eine Praxis
zum Ausdruck, die Zerstörung als soziales und ästhetisches
Phänomen darstellt:
Selbstzerstörende Kunst
Selbstzerstörende Kunst ist in erster Linie eine Form von
öffentlicher Kunst für Industriegesellschaften,
Selbstzerstörende Malerei, Skulptur und Konstruktion ist
eine Einheit von Idee, Schauplatz, Form, Farbe, Methode
und Timing des desintegrativen Prozesses.
Selbstzerstörende Kunst kann mit natürlichen Kräften,
traditionellen künstlerischen Techniken und technischen
Mitteln geschaffen werden.
112 Claudia Lupri, »Essay: Transformations«, in: Ulrike Rosenbach.
Video, Performance, Installation 1972-1989, Toronto 1989, S. 15.
* Orlan berichtigt: Die Performance hat keineswegs die inkarnation
des männlichen Ideals weiblicher Schönheit zum Ziel. Die Vorlagen
wurden vielmehr aufgrund ihrer Geschichte und ihrer psychologi
schen Eigenart ausgewählt, denn jedes andere als das subversive
Schönheitsideal will Orlan zwar befragen, aber nicht verkörpern. Im
übrigen hat Orlan die Bilder mit ihrem eigenen vermischt und so einen
Hybriden jenseits jeder Idealvorstellung geschaffen, sie bedient sich
nicht der Methode des Zeuxis, sondern unterläuft diese. Zudem war
der ursprüngliche Hybride nur ein Anhaltspunkt, um die Chirurgen zu
leiten und ihnen etwas anderes als ihre eigenen Modelle aufzuzwin
gen.
113 Scarry (wie Anm. 4), S. 162.
114 Helene Cixous, Inside, übers, von C. Barko, New York 1986, S.
97.
115 Siehe Metzgers Manifeste, nachgedruckt in: Kristine Stiles und
Peter Selz (Hrsg.), Theories and Documents of Contemporary
Art, Berkeley 1996, S. 401-404.