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eigenen Erfahrung, nicht der Assimilierung anderer
Systeme. Die eigentliche Form meiner Pertormances hat
sich unter dem direktem Einfluß westlicher Kunst ent
wickelt. Ich stand damals in relativ engem Kontakt mit
Terry Fox, Tom Marioni, Chris Bürden und anderen, und
ich hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was in
der Welt los war. Die »Wiener Schule« jedoch mit ihrer per
versen Fin-de S/ec/e-Atmosphäre stieß mich ab. (Freud
hätte nirgendwo anders leben können.)™
Im April 1975 reiste Tom Marioni nach Prag, um Recherchen
für eine wichtige Sondernummer anzustellen, die die Zeit
schrift Vision über experimentelle Kunst in Osteuropa plante.
Während dieses Aufenthalts schufen Marioni und Stembera
Joining, eine Aktion, bei der die beiden Künstler ihre Körper
mit Kreisen aus Dosenmilch und Kakao vereinten, die sie mit
hungrigen Ameisen bevölkerten; das kreisförmige Muster ver
sinnbildlichte ihre Bruderschaft inmitten des Ost-West-
Konflikts.
Es ist wohl kein Wunder, daß der jugoslawische Künstler Rasa
Todosijevic zwischen 1976 und 1978 in Osteuropa mehrere
Male Was Ist Kunst aufführte. Mit dem Rücken zum Publikum
flüsterte, rief, tobte, schrie, flehte, bettelte oder fragte er in den
unterschiedlichsten Tonlagen und Intonationen immer wieder
dieselbe Frage in ein Mikrophon: »Was ist Kunst?«. Dabei
blickte er auf eine Kulisse, auf der dieselben Worte in fetten
Lettern geschrieben standen, und vor der schweigend eine
Frau (Marinelia Kozelj) saß, das Gesicht dem Publikum zuge
wandt; neben ihr stand ein Mann mit einem schwarzen Tuch
über dem Kopf, die Schultern mit einem Seil um den Hals
gefesselt. Die Aktion dauerte ungefähr fünfundzwanzig
Minuten, bis Todosijevic nicht mehr konnte, und seine tiefe,
heisere, kräftige Stimme kaum mehr zu hören war. Es war eine
Qual zuzusehen, zuzuhören, teilzunehmen. Denn die Aktion
stellte eine Frage, die untrennbar mit den eigenen kulturellen
Bedingungen des Künstlers verbunden war - Bedingungen,
die den beständigen Drang unterdrückten, die tatsächlichen
Erfahrungen des damaligen Lebens authentisch zu visualisie-
ren; Künstler wissen, daß Kunst nicht unterdrückt werden
kann, ob in der gefräßigen Konsumwelt des Kapitalismus oder
unter der zwanghaften Repression des Kommunismus.
Während die inszenierte Befragung die Gültigkeit von Kunst
an sich in Frage stellte, bestätigten die Zeugin (Kozelj) mit ihrer
stummen Antwort und ständigen Präsenz, und der gequälte
Mann die Fähigkeit der Kunst und - im weitesten Sinn - der
Menschheit, Widerstand zu leisten, sich auseinanderzusetzen
und durch die Kräfte der Phantasie weiterzubestehen, jene
Kräfte, die keiner Kontrolle unterworfen werden können und
die keine andere Disziplin so machtvoll fördert wie die Kunst.
Während der Aktion Wassertrinken (28. April 1974) erschien
der Künstler mit bloßem Oberkörper und trank mehrere Male
Wasser aus einem Aquarium, dessen Bewohner zuvor dem
Publikum vor die Füße gekippt worden waren. In dem
Versuch, »in Harmonie mit dem Rhythmus der atmenden
Fische zu sein«, trank der Künstler sechsundzwanzig Gläser
Wasser, während er gleichzeitig atmete, so daß er schließlich
die unerträgliche Wassermenge wieder erbrach, die er sich
eingeflößt hatte, um die Lebenswelt einer ihm fremden Kreatur
nachzuahmen.™ Diese Aktion erinnert auch an Marina
Abramovics Rhythmus 0 (1974), bei der die Künstlerin
bedrohliche Gegenstände auf einem Tisch auslegte und ver
kündete: »Auf dem Tisch seht ihr ein paar Gegenstände, mit
denen ihr mich bearbeiten könnt. Ich bin ein Gegenstand.«
Diese und eine Reihe anderer Aktionen von Abramovic,
Stembera, MIcoch, Todosijevic und anderen osteuropäischen
Künstlern wurden damals wie heute als »masochistisch«
bezeichnet. Obwohl sie zweifellos die Verkehrung äußerlichen
Leids in selbstauferlegten Schmerz zum Ausdruck bringen,
wurden sie nicht zur Befriedigung individueller erotischer
Gelüste oder Begierden ausgeführt, sondern als lebensnot
wendige, interkulturelle Kommunikation zwischen Künstlern,
kleinen Gruppen von Individuen, denen der Kontext und die
Erfahrungen gemeinsam waren, die metaphorisch dargestellt
und metonymisch geteilt wurden. Metonymie drückt einen
unkörperlichen oder nicht greifbaren Zustand als körperlich
oder greifbar aus, sie verlangt danach, die Verbindung entlang
der Achse der Kombination herzustelien, und versetzt uns in
die Lage, die Kontiguität von Beziehungen zwischen zwei
Dingen wahrzunehmen. Schließt eine solche Verbindung
menschliche Beziehungen mit ein, wird sie möglicherweise
menschliche Aktionen »auf einen weniger komplexen und in
der Regel konkreteren Bereich des Seins reduzieren«.''®^ Diese
Eigenschaften sind von besonderer Relevanz für die Funktion
179 Stembera im Gespräch mit Ludvik HIavacek, »vzpominka na
akeni umeni 70. let«, in: ibid., S. 66.
180 Rasa Todosijevic, in: Vision, a.a.O., S. 31.
181 Siehe Robert J. Matthews und Wiifried Ver Eecke, »Metaphoric-
Metonymie Polarities: A Structurai Anaiysis«, in: Unguistics: An
International Review, 67, März 1971, S. 49, zitiert in meiner
unveröffentiiehten Dissertation (Anm. 3).