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Tadeusz Kantor, Meerespanorama-Happening
sam gezwungen habe, die Menschen darüber hinaus in einer
ausweglosen Zwickmühle steckten (die aus einem ausge
prägten Nationalismus gepaart mit ökonomischem Mangel
bestand), die es ihnen unmöglich machte, sich anders wahr
zunehmen als »vollkommen abhängig von einer Regierung,
die sie nicht kritisieren konnten, ohne als unpatriotisch
gebrandmarkt zu werden«.’®^ Diese paradoxe Zwangslage
verstärkte den von Verdery als »symbolisch-ideologisch«
bezeichneten Diskurs in Rumänien, ein Diskurs, der sich »die
Nation...als zentrales Symbol« zunutze macht, und der die
rumänische Kunst durchdringt, in welcher der Körper und
seine Aktionen als Subjekt und Feind zugleich identifiziert
werden.’®®
Kurzum, die Rumänen fühlten sich innerlich zerissen, para
dox, verdoppelt und verseucht. Diese Verdopplung und
Spaltung läßt sich in allen Photographien und Filmen, die
Grigorescu von sich selbst gemacht hat, erkennen. In
Männlich/Weiblich (1976) verkörpert er beide Geschlechter. In
Boxen (1977) boxt er mit sich selbst. In Äme-am (1977)
schlägt er sich mit seiner Seele herum. In Dialog mit Nicotae
Ceaugescu (1978), einem sechsminütigen Schwarzweißfilm,
übernimmt der Künstler beide Rollen, die des Diktators und
seine eigene. Grigorescus Darstellungen und Selbst
darstellungen - in all ihrer Selbstanklage, ihrem Schuldgefühl,
ihrer Wut, Sinnlosigkeit und mit ihrem gespaltenen Gefühl
sozialer Erfahrung - zeugen auch von jenem Phänomen, das
Alexandra Cornilescu, Linguistin an der Universität von
Bukarest, als rumänische Überiebensstrategie beschreibt: die
Fähigkeit, »eine Vielzahl von Leben voneinander abzugrenzen,
zu kultivieren und zu führen, etwas anderes zu sagen, als man
denkt, in mehrschichtigen Codes zu sprechen, die für
Denunzianten nicht zu durchschauen sind (und häufig selbst
für die eigenen Freunde nicht), Blicke und Gesten wie Worte
zu gebrauchen«.’®’’ Oder, wie der rumänisch-amerikanische
Dichter Andrei Codrescu schrieb: »Ich lüge, um die Wahrheit
vor den Idioten zu verbergen.«’®®
Tadeusz Kantor hatte einen nicht zu unterschätzenden Einfluß
auf die Avantgarde-Kunst in ganz Osteuropa. Der 1915 gebo
Jerzy Beres, Altar des Gesichts
(Oltarz Twarzy), 1974.
Muzeum Narodowe, Wroclaw, Polen
rene gelernte Maler überlebte den Krieg in Krakau und insze
nierte Bühnenstücke in einer Zeit, in der jegliche künstlerische
Aktivität von den Deutschen bei Todesstrafe verboten war.
Direkt nach dem Krieg organisierte er zusammen mit Kollegen
die erste Ausstellung für Moderne Kunst in Krakau (1948).
Diese Aktivitäten müssen im Kontext der massiven Zer
störung des ganzen Landes gesehen werden. Sechs Millionen
Polen waren gestorben. Jede größere Stadt außer Krakau war
von deutschen Bomben in Schutt und Asche gelegt worden.
Der Analphabetismus breitete sich aus und die »reiche Vielfalt
des Landes war verschwunden: ein Großteil der Juden war
tot, die Deutschen waren vertrieben, die Ukrainer und
Belorussen von der Sowjetunion geschluckt«.’®® Bis 1956
blieb Polen unter stalinistischer Herrschaft.
In der Galeria Krzysztofory (einer der beiden Avantgarde-
Galerien in Polen) gründete Kantor 1955 sein experimentelles
Theater >Cricot IF. Cricot II war ein »Theater der konkreten
Realität, nicht der szenischen Illusion« und zugleich Ausdruck
von Kantors Interesse an der Realität zerstörter, beschädigter
und untauglicher Materialien, die in den ersten Nachkriegs
jahren so viele Künstler faszinierten. Noch im selben Jahr
reiste Kantor nach Paris, entdeckte dort Wols, Mathieu und
Pollock; 1957 begann er, im Informel-Stil zu malen und seine
im Rahmen der Produktionen von Cricot II verwendete
Technik, Menschen und Objekte als Pakete zu verpacken
(eine Vorgangsweise, die den bulgarischen Künstler Christo
beeinflußt haben könnte) mit dem französischen Wort embal-
ier (ver-, einpacken) zu bezeichnen. 1963 organisierte er in
Krakau die »Anti-Ausstellung« und schrieb »Das Null-
Theater«, ein Manifest über die Bedeutung der Beziehung
zwischen Kunst und Realität, 1965 reiste er in die Vereinigten
Staaten, wo er Allan Kaprow kennenlernte; nach diesem
Aufenthalt definierte er seine Arbeitsweise, »Realität durch
Realität darzustellen«, als Happening. Zwischen 1965 und
1969 organisierte er acht Happenings.’®® In Meerespanorama-
Happening (1967) setzte der Künstler Gerüchte in Umlauf, um
den geheimnisvollen Inhalt eines großen Koffers noch
geheimnisvoller zu machen; das Publikum bekam den Inhalt
185 Katherine Verdery, National Ideology Linder Socialism: Identity
and Cultural Politics in Ceaufescu's Romania, Berkeley, S. 101.
186 Ibid., S. 122.
187 Alexandra Corniiescu, »Transitional Patterns: Symptoms of the
Erosion of Fear in Romanian Political Discourse«, unveröffent
lichtes Gespräch vom Jahrestreffen der Modern Language
Association, New York 1992. Alle weiteren Zitate von Cornilescu
stammen aus diesem Artikel.
188 Andrei Codrescu, Monsieur Teste in America and Other
Instances ofRealism, Minneapolis 1987, S. 14.
189 Tina Rosenberg, The Haunted Land: Pacing Europe's Ghosts
after Communism, New York 1995, S. 145.
190 Michal Kobialka, »The Quest for the Self/Other: A Critical Study
of Tadeusz Kantor's Theatre«, in: Michal Kobialka (Hrsg.), A
Journey Through Other Spaces: Essays and Manifestes,
1944-1990, Tadeusz Kantor, Berkeley 1993, S. 293.