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Yves Klein, L’Etoile (Der Stern) (ANT 73), 1960. Yves Klein-Archiv
durchdachter, theatralischer, erotisch stimulierender und
spektakulärer war als alles, was Mathieu oder die Gutai-Künst-
ler bis dahin erdacht hatten. Diese Performance fand in der
Pariser Galerie Internationale d’Art Contemporain statt - eine
einflußreiche, wenn auch nicht sonderlich avantgardistische
Galerie, die auch Mathieu vertrat. Die wohlhabenden Gäste
trafen ein und nahmen auf vergoldeten Stühlen Platz. Ein großer
Teil des Bodens war mit Papierbahnen bedeckt, und an der
Stirnwand hing eine gut sechs Meter breite Papierbahn, vor
der unterschiedlich hohe Sockei standen. Mit förmlichem Ernst
trat ein Ensemble aus drei Geigern, drei Cellisten und drei Chor
sängern ein und plazierte sich auf einer Bühne am anderen
Ende des Raumes. Klein, der wie die Musiker einen Smoking
und eine weiße Krawatte trug, trat als Dirigent hinzu und ver
beugte sich vor seinem Orchester, das seine Symphonie mono
tone zu intonieren begann. Diese besteht aus einem Zykius
von zwanzig Minuten, während derer eine einzige Note
gespielt wird, auf den zwanzig Minuten Stilie folgen. Über diese
reduktive, von Cage inspirierte Komposition bemerkte Klein
in einer an der Sorbonne abgehaltenen Vorlesung: »Da sie
weder Anfang noch Ende hatte, entzog sich diese Sympho
nie unmerklich der Phänomenologie der Zeit. Sie lebte jen
seits von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, da sie nie
geboren wurde und nie starb.«^' Die Symphonie stand in star
kem Kontrast zu dem Auftritt der drei vollkommen nackten
Frauen, die mit I.K.B. gefüllte Eimer herbeitrugen. Den stum
men Anweisungen des Künstlers folgend, trugen die Modelle
die Farbe auf ihre Körper auf und drückten sich dann auf dem
Papier ab. Dieser Teil der Performance war am Vortag in einer
ausgefeilten Probe sorgfältig choreographiert worden. Das bei
dieser Vorübung entstandene Bild wurde anschließend in eine
Reihe einzelner Anfhrapomefrven zerschnitten, die sich kaum
von der während der Performance entstandenen großfor
matigen Komposition unterschieden. Dieses außerordentlich
hohe Maß an Kontrolle über ein scheinbar spielerisches, fast
schon frivoles Ereignis war kennzeichnend für Kleins Arbeit.
Nach der Performance, der mehr ais hundert Gäste - über
wiegend ältere Kunstmäzene und nur wenige Avantgarde
künstler und -kritiker - beigewohnt hatten, fand eine Diskus
sion mit dem Publikum statt, Mathieu, der Kleins Übernahme
und Persiflage seiner eigenen Arbeit erkannte, fragte den jün
geren Künstler: »Was ist Kunst für Sie?« Klein, dessen Den
ken konzeptuell ausgefeilter war als Mathieus formalistischer
Ansatz, antwortete: »Die Kunst, das ist die Gesundheit!« Die
Bemerkung war nicht nur aus dem Stehgreif hingeworfen,
sondern reflektierte Kleins Konzentration auf den Körper,
dessen Wohlbefinden eine Grundlage seiner spirituellen
Transzendenz ist. »Diese Gesundheit läßt uns »existieren'«,
behauptete Klein,»(Sie ist) das Wesen des Lebens selbst. (Sie
ist) alles, was wir sind.«®«
27 Yves Klein, Zit. nach Sidra stich (wie Anm. 22), S. 177. 28 lbid.,S.175.