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zur Unendlichkeit hin: »Die Zeit ist etwas anderes, als das, was
die Uhrzeiger abmessen, und die >Linie' mißt nicht Meter oder
Kilometer, sondern sie ist eine Null, nicht die Null als das Ziel,
sondern als der Anfang einer unendlichen Reihe.«^« Tatsäch
lich steht die mögliche Fortsetzung der Linien in die Unend
lichkeit insofern symbolisch für die fragmentarische Natur des
Lebens, als sie unabhängig von ihrer Länge nur Bruchteile der
Dimensionslosigkeit der Zeitlosigkeit sind - Verweise auf Ak
tionen, die in die Leere des Seins verschwinden. Alma Ruiz
bemerkt 1995 in ihrem Essay »Piero Manzoni: Line Drawings«:
»Jede Linie funktioniert als Verweis auf eine Handlung,
genauso wie Manzonis Künstleratem (Fiato d’artista) - ein mit
dem Atem des Künstlers aufgeblasener Ballon - und seine
Künstlerscheiße (Merda d’artista) - eine Büchse mit seiner
Scheiße. Tatsächlich kann der Akt, eine Linie auszuführen, als
eine Performance betrachtet werden, ob sie nun in der Ein
samkeit des Ateliers, vor einem Publikum auf der Straße oder
in einer Druckerei geschieht, wo die Herstellung der Linien in
Zusammenarbeit mit anderen geschah und eine Art Happening
oder Fluxus-Event war.«®^
Dieser Abschnitt weist darauf hin, daß Manzonis Aktivitäten
sich verstärkt mit seinem eigenen Körper beschäftigten.
Mit seinem Künstleratem (1960) und seiner Künstlerscheiße
(1961) verwandelte er eine Ausdünstung und eine Ausschei
dung in Kunstwerke. Letztere wurde, in Dosen zu je dreißig
Gramm verpackt, nach Gewicht zum selben Grammpreis wie
Gold verkauft. Seine damit in Beziehung stehenden Luftkör-
36 Piero Manzoni, zit. in: Freddy Battino/Luca Palazzoii,
Piero Manzoni: Catalogue raisonne, Mailand 1991, S. 100.
per (Corpi d’aria, 1959-60) waren pneumatische Skulpturen,
die aus einem Behälter bestanden. In dem sich eine Luftpumpe
und ein Ballon befanden, der vom Käufer aufgeblasen wer
den konnte. Wenn der Käufer es wünschte, blies Manzoni für
200 Lire pro Liter selbst den Ballon auf, und das Werk wurde
In Künstleratem umbenannt. Für den Künstler waren diese
Arbeiten ein Ausdruck »des Seins in der Realität und in der
Leere«, aber auch »des Seins als Realität und Leere«.
Manzoni benutzte für seine Kunst auch die Körper seines Pub
likums. 1960 kochte er Eier, versah sie mit dem Abdruck sei
nes Daumens und gab sie seinem Publikum zum Essen. 1961
stellte er in der römischen Galleria La Tartaruga seinen Magi
schen Sockel (Base Magica) vor. Dieser einfache Sockel, auf
dem sich Fußabdrücke aus Filz befanden, ermöglichte es den
Betrachtern, sich auf Einladung des Künstlers in Kunstwerke
zu verwandeln. Die partizipatorische Struktur, die Murakami
mit seinem Werk: Kiste (Sakuhin: Hako, 1956) initiiert hatte,
wurde von Manzoni zu einer eleganten und klaren Auflösung
geführt, als er großzügigerweise die Körper der Teilnehmer
signierte und ihnen Echtheitszertifikate ausstellte. Wie seine
Linien stellten auch die Mag/scher SockeZ-Arbeiten eine Zeit
messung dar, in denen der transformative Aspekt der Kunst
wahrgenommen werden konnte. In Anbetracht von Manzo
nis Obsession mit der Messung und Demarkation von Zeit
und auch angesichts seiner lebensbejahenden Haltung
erscheint es umso tiefgründiger, daß er 1963 so jung starb.
1958 erfand Giuseppe Pinot Gallizio, ein Chemiker, der zu-
37 Alma Rulz, »Piero Manzoni: Line Drawings«, in: Piero Manzoni:
Line Drawings, Ausst.-Kat., The Museum of Contemporary Art
Los Angeles, Ravenna 1995, S.14.