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ausgeschlossen hatte, behielt die Aktion für ihn ihre primäre 
Bedeutung. Zu jener Zeit, als Bürden Shoot inszenierte, schuf 
Gina Pane 1971 Escalade non-anesthesiee, ein Stück, das 
zunächst vor einer kleinen Gruppe von Freunden in ihrem Ate 
lier und später in einer öffentlichen Galerie vorgeführt wurde. 
Sie bestieg darin eine Art Leiter, auf deren Sprossen sich kleine 
Klingen befanden. In Le corps pressenti (1975) hinterließen Ein 
schnitte, die sie mit einer Rasierklinge zwischen ihren Zehen 
anbrachte, permanente Blutflecke auf dem Gipsabdruck, auf 
dem ihre Füße dabei ruhten. Pane erklärte diese nicht-religiösen 
Sakramente so: »Mein wirkliches Anliegen war, durch diese 
Wunde, die zum Zeichen wurde, eine Sprache zu konstruieren. 
Durch diese Wunde habe ich versucht, den Verlust von Ener 
gie zu vermitteln. Für mich ist körperliches Leid nicht nur ein 
persönliches Problem, sondern ein sprachliches Problem. Mir 
selbst Wunden zuzufügen stellte eine zeitliche Geste dar- eine 
psycho-visuelle Geste, die Spuren hinteriäßt.«™ In Psyche 
(1974) kniete Pane vor einem Spiegel, schminkte sich aus 
führlich und fügte dann mit einer Rasierklinge zwei halbkreis 
förmige Einschnitte direkt unter ihren Augenbrauen hinzu. Die 
Mißhandlung ihres eigenen Körpers stellte auch eine Ausein 
andersetzung mit ihrer eigenen Verwundbarkeit und der von 
Frauen im allgemeinen dar. Ein ähnlicher Gedanke liegt auch 
in Orlans einzigartiger, lebenslanger Selbstverwandlung zu 
grunde, die mit Le Baiser de l'Artiste begann und bis heute 
andauert. Orlan benützt Schmerz, um den Betrachter aus sei 
ner Betäubung zu lösen, und schafft damit - wie Burdens Shoot 
- Situationen, die so extrem sind, daß sogar der abgebrühte 
ste Zuschauer eine Art Mitleid und Mitschuld empfindet. 
Ein paar Jahre nach Burdens revolutionärem Shoot inszenierte 
Marina Abramovic eine Arbeit, die sich mit ihren eigenen Äng 
sten in bezug auf ihren Körper auseinandersetzte und gleich 
zeitig demonstrierte, wie ernst ihr ihre Kunst war: Bei der öffent 
lichen Vorführung von Rhythm 0 (1974) in Neapel trat sie vor 
ein Publikum und brachte das, was an ihr am sichtbarsten war 
79 Gina Pane in: Helena Kontovä, »The Wound as a Sign: 
An Encounter with Gina Pane», in: Flash Art, 92-93, 
Oktober-November 1979, S. 36. 
Gina Pane, Le corps pressenti (Der erahnte Körper, 
Ausschnitt), 1975. Museum Moderner Kunst 
Stiftung Ludwig, Wien 
- ihren Körper-, in Gefahr. Auf einem Tisch lagen diverse Instru 
mente, mit denen Schmerz zugefügt oder Lust bereitet wer 
den konnte. Dann wurde dem Publikum mitgeteilt, daß die 
Künstlerin sich für die Dauer von sechs Stunden passiv und 
willenlos verhalten würde und daß die Zuschauer die In 
strumente in dieser Zeit nach Belieben benutzen konnten. Abra 
movic hatte diese Nervenprobe zeitlich begrenzt, eine Strategie 
ä la Gage, derer sich viele Performance-Künstler bedienten, 
um einem nonlinearen Event Anfang und Ende zu verleihen. 
Was in den ersten drei Stunden noch relativ harmlos begann 
- die Zuschauer bewegten die Künstlerin hin und her und 
berührten sie an intimen Stellen -, artete bald in ein gefähr 
liches und unkontrollierbares Spektakel aus. Man schnitt ihr 
die gesamte Kleidung mit Rasierklingen vom Leib, und in der 
vierten Stunde fügte man ihr mit denselben Klingen Schnitt 
wunden zu, aus denen Blut gesaugt werden konnte. Als die 
Zuschauer merkten, daß die Frau sich nicht schützen würde 
und daß sie offensichtlich Gefahr lief, geschlagen und verge 
waltigt zu werden, bildete sich eine Gruppe von Beschützern. 
Als einige Leute schließlich eine geladene Pistole in Abramo- 
vics Fland und ihren Finger auf den Abzug legten, brach zwi 
schen dieser Gruppe und den Beschützern der Künstlerin eine 
Schlägerei aus, während derer sie den rivalisierenden Frak 
tionen im Publikum völlig ausgeliefert war.“ 
Bevor Ulay (Uwe F. Laysiepen) 1975 Abramovics Partner und 
Mitstreiter wurde, hatte auch er sich in emotional und psy 
chologisch heikle Situationen begeben, in Arbeiten, die mehr 
80 Thomas McEvilley, »Marina Abramovic/Ulay Ulay/ 
Marina Abramovic», in: Artforum, 13,1, September 1983, S. 52.
	        
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