Es ist durchaus normal, daß sich der Mensch als Maßstab ansieht und daß er sich seine Meinung als Funktion seiner
eigenen intellektuellen oder physischen Dimensionen bildet. Nun wissen wir aber schon seit geraumer Zeit, daß es
in der Natur Wesen gibt, deren Organe an Feinheit die der Menschen weit übertreffen. So durchdringt das Auge
der Raubtiere die Dunkelheit besser, und das Gehör mancher Tiere nimmt Töne wahr, deren Schwingungszahl
außerhalb der Reichweite unseres Ohres liegt. Aber das Genie des Menschen findet Mittel, um diesen Unvollkom
menheiten des Menschen abzuhelfen. Auf dem Gebiet des Schalls hat man Hörapparate und Lautsprecher erfunden,
und für amputierte Glieder und zahnlose Münder gibt es
geeignete Prothesen. Für das Auge hat man Brillen, Mikro
skope und Ferngläser geschaffen, aber man ist dabei nicht
stehen geblieben. So gibt es ein Mittel, um das Bild der Dinge
mit viel größerer Genauigkeit und Objektivität wiederzugeben,
als es das menschliche Auge vermag, und dieses Mittel ist die
Photographie. Noch besser ist es, daß dieses wunderbare Werkzeug über die wesentlichen Eigenschaften einer
idealen Universalsprache verfügt: die gleiche Information läßt sich gleichzeitig einem Amerikaner, einem Russen
oder einem Türken vermitteln. Außerdem kann die Photographie ihre Blicke in den menschlichen Körper richten
(Röntgenaufnahmen!) und eine bestimmte Bewegungsphase wortwörtlich „erstarren“ lassen (Stroboskop-Photo
graphie). Seit der Epoche der Porträts unserer Ahnen hat die Photographie, die heute gut hundert Jahre alt ist, in
unserem modernen Leben ein gigantisches Reich erobert.
ESPERANTO
ohne ttJ-otte-
Die großen Plakate der Straßenreklame sowie die verschiedensten Werbemittel, die in den Auslagen der Geschäfte
unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sind meist photographische Vergrößerungen. In den Zeitungen und Zeit
schriften ist oft das Bild das Hauptelement der Information, das bei weitem und mehr als man annimmt, das einzige
ist, wofür der „Leser“ heute noch Zeit findet.
Bei Untersuchungen von Kriminalfällen ist es gleichfalls die Photographie, die es vermag, für Tatsachen, Situationen
und Objekte eine dauerhaftere Erinnerung zu schaffen als das menschliche Gedächtnis, und sie ist es auch, die die
größte Überzeugungskraft besitzt. Auch auf dem Gebiet der Industrialisierung spielt die Photographie eine sehr
schätzenswerte Rolle. So prüft man durch Röntgenaufnahmen in Amerika die Hunderte von Kilometern langen
Rohrleitungen für Erdöl auf eventuelle Strukturfehler im Metall. Ebenso nimmt die Photographie im Dienste der
reinen Wissenschaft eine Stellung ein, die durch nichts anderes ersetzt werden kann. Auf dem Mount Palomar in
den Vereinigten Staaten, wo man das Firmament mit den größten und mächtigsten Fernrohren, die es auf der Erde
gibt, beobachtet, hat sich längst erwiesen, daß das Auge dazu nicht ausreicht. Daher macht man photographische
Aufnahmen von den Spiralnebeln, die Tausende von Lichtjahren der Reichweite unserer Augen entzogen haben.
Ja, die Photographie kann selbst neue Zweige angewandter Wissenschaft auf ihr Konto verbuchen. Auf Grund von
stereoskopischen Luftbildaufnahmen aus 3000 Meter Höhe kann Professor Beicher von der Universität Cornell mit
seinem Spezialistenstab sagen, ob der Boden der photographierten Fläche Erdöl, Diamanten, prähistorische Gräber
oder Erdminen enthält.
Es ist sogar schwierig, sich unser heutiges Leben ohne die Photographie auch nur vorzustellen. Der Mensch, der
seine Abende vor dem lebenden Bild des Fernsehempfängers verbringt, hat ein derartig starkes „Bild-Verlangen“
bekommen, daß man wohl — ohne Widerspruch zu erregen — behaupten darf, daß die visuelle Information mehr
Bedeutung erlangt hat als je.
Wenn der einfachste Dorfschüler unserer Provinz heute weiß, wie Marilyn Monroe oder Gina Lollobrigida aussehen,
oder wie eine Wasserstoffbombe zur Explosion gebracht wird, so verdankt er das dem Bild, das mit Hilfe der Photo
graphie entstanden ist. Und wenn Sie sich noch an Präsident Lincoln erinnern können, so weniger seiner politischen
Tätigkeit wegen, sondern an Hand der Porträts, die Alexander Gardner und Mathew Brady von ihm geschaffen
haben.
Durch die Photographie haben wir auch im letzten Weltkrieg die sensationellen Reportagen der Kriegsbericht
erstatter vom Range eines Cappa, der in Indochina gefallen ist, zu Gesicht bekommen. Mehr und mehr erweist sich
die Photographie als ein völkerverbindendes visuelles Esperanto, mit dessen Hilfe bereits ganze Feuilletons mit
Licht „geschrieben“ worden sind. So hat der „photographische Roman“ besonders in Italien und Frankreich an
Verbreitung gewonnen. In Italien erscheinen Woche um Woche unter der Bezeichnung „fumetti“ Dutzende von
Magazinen mit Erzählungen, die fast ausschließlich photographische Bildgeschichten sind.
In Italien interessiert man sich auch schon jetzt für das Zustandekommen photographischer Qualitätsromane, und
zwar hauptsächlich auf Anregung von Crocenzi.
Ein weiteres Feld — übrigens ein sehr wichtiges — ist die Schule, auf die die Photographie ihren Einfluß auszudehnen
beginnt.
Und wieder ist es ein Italiener, Alvaro Valentini, der uns in verschiedenen Zeitschriften von seinen Erfahrungen auf
diesem Gebiet als Lehrer der 3. Mittelstufe berichtet. Er verschmähte die traditionelle und, sagen wir es ruhig, lang
weilige Methode von Analyse und Kommentar über die Klassiker und lehrte dafür seine Schüler, den besonders
dramatischen Stellen der Odyssee eine plastische Form zu geben. Dann brachte er sie dazu, den Objekten, die sich
auf die Materie des Lehrgegenstandes bezogen, filmmäßigen Ausdruck zu geben. Und aus diesen Arbeiten erstand
ein außerordentlich lebhafter Bericht, der uns das Aufblühen alles dessen, was in diesen jungen Seelen schlummerte,
mitzuerleben gestattete, alles was diese jungen Menschen mit jugendlicher Begeisterung — und mit welchem Erfolg ! —
zum Ausdruck zu bringen sich bemühten.
Das läßt uns sofort an den berühmten französischen Dichter und Mathematiker, Paul Valery, denken, der da sagte:
„Es ist unnütz, mit Worten das zu beschreiben, was uns ein Bild direkt zeigen kann“. Und auch an Steichen, den
Leiter der photographischen Abteilung des „Museum of Modern Arts“ in New York, den Schöpfer und Organisator
der großen Photoausstellung „The Family of Man”, deren Bildwände Hunderttausenden von Besuchern der Neuen
und Alten Welt noch vor Augen stehen. Auch er hat wohl recht, wenn er sagt: „Ein einziges Bild sagt mehr als
10 000 Worte“, aber vorsichtig fügt er hinzu: „vorausgesetzt, daß 10 Worte dies Bild begleiten“.
Es muß auch noch gesagt werden, daß in den Vereinigten Staaten, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo
die kühnsten Ideen ihre größte Chance finden, 50% des Budgets für den Einsatz von Bild und Ton als Lehrmittel
eingesetzt werden. Gevaert Pressestelle