MAK

Volltext: Alte und Moderne Kunst XVII (1972 / Heft 120)

Bohdan Hermansky 
Die Männerakte Koligs 
und die österreichische 
Handzeichnung seiner Zeit 
1 Anton Kolig, männlicher Akt (s. S. 27) 
28 
Die österreichische Handzeichnung der ersten 
Hälfte des 20. Jahrhunderts gewann durch ihre 
Originalität, Vielfalt und Stärke eine außeror- 
dentliche, ia globale Bedeutung, die heute auch 
schon in der hohen Wertschätzung durch Samm- 
ler und Galerien in aller Welt ihren Nieder- 
schlag gefunden hat. Diese Zeichnungen waren 
schon zur Zeit ihrer Entstehung Gegenstand einer 
besonderen Beachtung und behaupteten eine 
Sonderstellung als Äußerungen eines gerade in 
Österreich hochentfalteten betont autonomen, 
ausdrücklich auf diese Technik konzentrierten 
Kunstwillens, der in solcher Intensität nur mit 
der Prominenz der Handzeichnung im alten 
China verglichen werden kann. 
Der Begründer dieser kultivierten Tradition, des- 
sen bahnbrechende Wirkung auch hier einen 
neuen Weg wies, Gustav Klimt, hatte in seine 
Malerei eine dem Fernen Osten in gewissem 
Sinne verwandte Anschauungsweise und Mate- 
riolverwendung eingeführt und hat dem Art nau- 
veau in Wien eine viel nachholtigere, dauern- 
dere Wirkung gesichert als dieser in jedweder 
anderen europäischen Metropole erreichen 
konnte. 
Die Handzeichnung war bis dahin fast aus- 
schließlich als Werkzeichnung, als Vorarbeit auf- 
gefaßt werden; peinlich genau ausgeschum- 
merte Akte, mit daneben wiederholten, verbes- 
serten Details, rochen nach dem Staub- und 
Fixativgestank der Ateliers. Die Mühsal, der 
Schweiß des „gestellten", stundenlang molträ- 
tierten (schlecht bezahlten) Berufsmodells, das 
alles sprach, kaum verborgen, aus diesen mü- 
den, professorolen Etüden, Fingerübungen. Und 
die gelungensten unter diesen verrieten nach 
durch den peinlich genau darüberlinierten Ra- 
ster, daß sie ihrem Autor als präzise Vorlage für 
das Bild gedient hatten und so des letzten An- 
spruches auf eigene, selbständige Wirkung ent- 
sagen mußten. 
Aber durch Klimt, Kokoschka, Schiele, Kolig, 
Wiegele, Boeckl und Frankl wurde die Zeichnung 
zum autonomen Kunstwerk erhaben, zu einem 
meisterhaft beherrschten Soloinstrument, zu 
einem persönlichsten, intimen Erlebnis, zum 
künstlerischen Selbstzweck. Die „Blätter" der ge- 
nannten Meister, insbesondere die Klimts und 
Schieles, waren für die feinnervigsten aficiona- 
das unter den Sammlern Wiens heißbegehrte 
Kunstobiekte, an deren Spitze die noble Alber- 
tina, aufmerksam und mit sicherer Witterung, 
diesen Kammermusikwerken höchste Geltung zu- 
erkannte und verbürgte. Die sublimierte Erotik 
dieser Meister fand eine intime Beziehung zu 
den besten Vertretern dieses damals zu höchster 
Blüte entfalteten Kulturzentrums, und heute sind 
ihre Blätter bereits äußerst kostbare, vergebens 
gewünschte Obiekte der größten Sammlungen 
in aller Welt. 
Von den sieben angeführten österreichischen 
Zeichnern waren nur Klimt und Schiele typische 
Wiener in ihrer Synthese von Eleganz und Hef- 
tigkeit, von Sinnlichkeit und Askese, van zärt- 
licher Hingabe an die Erscheinung und trapisti- 
scher Straffheit der Ausdrucksmittel. Strich und 
Fläche haben hier ein suggestives Eigenleben, 
haben eine vorn Gegenstand unabhängige Wir- 
kungskraft; das hat Hundertwasser gewisserma- 
ßen unter Beweis gestellt. 
Oskar Kokoschka hat bei Klimts slawischer arna- 
mentaler Dekorativität angeknüpft, aber das von 
altem Anfang an mit einer dunklen Leidenschaft, 
die, aus nordischen Quellen genährt, den Be- 
trachter nicht verführen, sondern erschüttern 
wollte. Das war nicht mehr wienerisch; das ge- 
mahnte an Munch und vor ihm noch an von 
Gogh. Auch mit seinen Zeichnungen hat Ko- 
koschka in fruchtbarster Fülle neue Wege gewie- 
sen, ohne diese selbst auszutreten, ohne si 
dem selbsterfundenen Handwerkzeug geni 
zu etablieren, so wie das alle anderen ll 
gingen von den Handzeichnungen Koko: 
viele wichtige Anregungen aus, die neue Ri 
gen befruchteten, Möglichkeiten aufdeckte 
er selbst achtlos beiseite gelegt hatte, ui 
nicht zu verhalten, um weitergelangen Zl 
nen. Er war ia kein Aktzeichner. Sein Moti 
die ganze Welt und die Bezirke, die da 
darüber und darunter liegen. Er ist der Ki 
an sich, Dichter, Bühnenbildner, Landscl 
Visionär. Das, was er festzuhalten unter: 
ist niemals ein konkreter Augenblick. Seine 
nisse umfassen zeitlich viel mehr, und 
seine Landschaften öffnen Ausblicke in 
ahnte Wirklichkeiten, Retrospektiven in sich 
und Ausweitungen ins Zeitlose, ins Traurr 
Der Zeichenstil Kokoschkas aus der Ze 
1910 verleiht dem Akt eine bisher unbel 
und unerhörte Aufregung und Abaanderli 
die gewiß auch befruchtend auf Kalig 
wirkt haben muß, der allerdings solche 
ausschließlich in den Dienst einer neuen, 
konkreten Farmgestaltung gestellt hat. Dii 
niszeichnung Nijinskys von Kokoschka i 
klassisches Beispiel für den Eigenwert der 
Dort bauen Formlinien etwas wie Facetti 
ten eines Kristalls auf, realisieren mit de 
perlichkeit aber zugleich die Geistigkeit de 
gestellten. Die Handzeichnungen Kokoschk 
in vielen wunderbaren, leider nie mehr 
evidierbaren Blättern über die ganze We 
streut sind, bedeuten einmalige Gipfelpunl 
Zeichenkunst, ohne daß er selbst diesen 
Entdeckungen gebührende Beachtung ges 
hätte. Denn ihm geht es nicht um die Zeicl 
aber um die Gezeichneten. Es ist ihm nu 
wenn auch sehr wichtige Methode der ki 
rischen Lebensaneignung. Er ist vor aller 
ler, Denker, Zeitkritiker, Zeitgenosse. Da 
man aber nicht, wie Schiele, Tag um Tai 
früh bis abends Aktzeichnen; so viele ii 
sante Menschen gibt es doch gar nicht. 
Zeichnungen, wie der Kopf Niiinskvs, sind 
steine einer neuen zeichnerischen Epoche. 
Klimt und Schiele haben in ihrem zeichnei 
Werk, ungewollt, der Wienerin ein beza 
des Denkmal gesetzt, Kokoschka blieb 
konkret; er hat alle Aspekte einiger F 
wie Alma Mahler oder Cama Svodod: 
ewigt. 
Anton Kolig war nichts weniger als ein V 
und doch war er typischer Österreicher. Ei 
die feinste Witterung für das Rustikoli 
Männliche. Er liebte die Nachbarschaft de 
len Felsengehänge, der ungebändigten G1 
bäche, das kalte Rauschen nächtlicher Vt 
Und das hat in seinem Werk kostbarer 
druck gefunden. 
Klimts Akte flüstern verliebte Beschwöri 
die Schieles stöhnen und fluchen. Um Kalig 
ist ein steinernes Schweigen ausgebreiti 
völlige Einsamkeit. Menschliche BGZlSlIUHQt 
ihrer nicht angemessen. Er lebte in einei 
wie die Andrea Mantegnas, in deren e 
Uberdeutlichkeit, mit ihren wie aus Ste 
schnittenen heftigen Verkürzungen, ihrer 
erfüllung und rustikalen Unmittelbarkeit 
zweiter Schutzpatron war der Burenbreug 
liebte dessen van Michelangelo inspiriertt 
le Lümmel, die mit gespreizten Beinen im 
hingestreckt schlafen. Jedem dieser Künstli 
es - ungeachtet ihrer verschiedenen Mitt 
Absichten - immer um eine vorgefaßte 
Form des Menschenkörpers, die er in ied 
ner Figuren von neuem wiedererkennt, v 
findet. Die schwerblütigen Leiber des alter 
ghel sind alle aus einer Familie, sind i
	        
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