MAK

Volltext: Heinrich Freiherr von Ferstel

und gross, ein solides Steingefüge und doch fein und phantasievoll empfunden, ein 
echtes Werk des gothischen Stils in seinen besten und echtesten Formen und doch 
dem modernen Kunstgefühl sympathisch nahe gebracht. 
So das Aeussere, der Bau. Noch glücklicher vielleicht ist das Innere mit seinem 
Schmucke ausgefallen. Hier ist die lange Reihe der Jahre, welche, da die Mittel nur 
tropfenweise kamen, über den Bau dahingeflossen sind, der Ausstattung von Vortheil 
gewesen. Denn bis zu dem Zeitpunkt, dass an Polychromie der Wände, an Kanzel 
und Altäre, an farbige Fenster, an Gitter und Schranken gedacht werden konnte, bis 
dahin war die denkwürdige Bewegung der letzten Jahrzehnte in allen Zweigen des 
Kunstgewerbes vor sich gegangen und hatte dieselben für jede künstlerische Anfor 
derung leistungsfähig gemacht. Sie wurden auch von unserem Meister zum Schmucke 
und zur Ausstattung seines Werkes vollauf in Anspruch genommen, und auch da ist 
es bewundernswürdig, mit welchem gesunden Sinne er vor sich ging und die Klippe 
vermied, an der schon mancher Künstler in der Decoration nach mittelalterlicher 
Art gescheitert ist. Sein Stilgefühl und sein Schönheitssinn leiteten ihn vereint mit 
weisem und sicherem Masse. 
Die Einen unter den modernen Gothikern — und so war eine Zeitlang die 
bevorzugte Meinung — weisen jede Farbe von den inneren Wänden ab und wollen 
nur den nackten Stein. Die Wirkung ist grau, kalt und öde. Andere dagegen wollen 
alles mit Farbe bedecken und nehmen, wie sie glauben, dass es im Mittelalter ge 
schehen, die ganzen, ungebrochenen Farben dazu. Vielleicht haben sie recht, aber 
wir können die Wirkung heute nicht vertragen; unserem Gefühl erscheint sie roh, 
schreiend, um nicht zu sagen barbarisch. Wie massvoll und edel dagegen wirkt die 
Polychromie in der Votivkirche! Unten, wo sie dem Auge nahe ist, bescheiden be 
ginnend, wächst sie an, je höher sie steigt, und endet oben in den Gewölben in 
schwellenden, vollen Accorden. 
Und noch Eines spricht dabei für den Meister. Es giebt Architekten und Maler, 
die in ihrer Vorliebe für das Mittelalter so weit gehen, alle Unvollkommenheit und 
Unbeholfenheit in der Zeichnung der Figuren, alle Fehler und Mängel der Perspective, 
die doch nur aus der Unfähigkeit hervorgegangen sind, für Stil und somit für not 
wendig und unerlässlich zu halten, wenn es sich um die malerische Ausschmückung von 
Kirchen romanischen oder gothischen Stils handelt. „Male die Seele, kümmere dich 
nicht um Arme und Beine“, so lauten Regel und Wahlspruch, und so werden Grimassen 
und Carricaturen mit aller Treue gleich denen des Mittelalters wieder an die Wände 
gemalt. Anders Ferstel. Für ihn lag der Geist des Mittelalters nicht in diesen häss 
lichen Aeusserlichkeiten, sondern in der tiefen, innigen Empfindung, in der Ruhe und 
7 
■
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.