und gross, ein solides Steingefüge und doch fein und phantasievoll empfunden, ein
echtes Werk des gothischen Stils in seinen besten und echtesten Formen und doch
dem modernen Kunstgefühl sympathisch nahe gebracht.
So das Aeussere, der Bau. Noch glücklicher vielleicht ist das Innere mit seinem
Schmucke ausgefallen. Hier ist die lange Reihe der Jahre, welche, da die Mittel nur
tropfenweise kamen, über den Bau dahingeflossen sind, der Ausstattung von Vortheil
gewesen. Denn bis zu dem Zeitpunkt, dass an Polychromie der Wände, an Kanzel
und Altäre, an farbige Fenster, an Gitter und Schranken gedacht werden konnte, bis
dahin war die denkwürdige Bewegung der letzten Jahrzehnte in allen Zweigen des
Kunstgewerbes vor sich gegangen und hatte dieselben für jede künstlerische Anfor
derung leistungsfähig gemacht. Sie wurden auch von unserem Meister zum Schmucke
und zur Ausstattung seines Werkes vollauf in Anspruch genommen, und auch da ist
es bewundernswürdig, mit welchem gesunden Sinne er vor sich ging und die Klippe
vermied, an der schon mancher Künstler in der Decoration nach mittelalterlicher
Art gescheitert ist. Sein Stilgefühl und sein Schönheitssinn leiteten ihn vereint mit
weisem und sicherem Masse.
Die Einen unter den modernen Gothikern — und so war eine Zeitlang die
bevorzugte Meinung — weisen jede Farbe von den inneren Wänden ab und wollen
nur den nackten Stein. Die Wirkung ist grau, kalt und öde. Andere dagegen wollen
alles mit Farbe bedecken und nehmen, wie sie glauben, dass es im Mittelalter ge
schehen, die ganzen, ungebrochenen Farben dazu. Vielleicht haben sie recht, aber
wir können die Wirkung heute nicht vertragen; unserem Gefühl erscheint sie roh,
schreiend, um nicht zu sagen barbarisch. Wie massvoll und edel dagegen wirkt die
Polychromie in der Votivkirche! Unten, wo sie dem Auge nahe ist, bescheiden be
ginnend, wächst sie an, je höher sie steigt, und endet oben in den Gewölben in
schwellenden, vollen Accorden.
Und noch Eines spricht dabei für den Meister. Es giebt Architekten und Maler,
die in ihrer Vorliebe für das Mittelalter so weit gehen, alle Unvollkommenheit und
Unbeholfenheit in der Zeichnung der Figuren, alle Fehler und Mängel der Perspective,
die doch nur aus der Unfähigkeit hervorgegangen sind, für Stil und somit für not
wendig und unerlässlich zu halten, wenn es sich um die malerische Ausschmückung von
Kirchen romanischen oder gothischen Stils handelt. „Male die Seele, kümmere dich
nicht um Arme und Beine“, so lauten Regel und Wahlspruch, und so werden Grimassen
und Carricaturen mit aller Treue gleich denen des Mittelalters wieder an die Wände
gemalt. Anders Ferstel. Für ihn lag der Geist des Mittelalters nicht in diesen häss
lichen Aeusserlichkeiten, sondern in der tiefen, innigen Empfindung, in der Ruhe und
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