wie die Engländer Scott und Pugin den gothischen Stil als den allein seligmachenden
bezeichnet haben. Der Geist Ferstels war fortwährend in einem Bildungsprocess
begriffen und sprengte alle Fesseln eines Stildoctrinarismus, sobald er erkannte, dass
der eine oder der andere Stil für eine bestimmte Aufgabe in der Architektur sich
passender erwies. Er war durch und durch ein moderner Renaissancemensch, der
das Bedürfniss gefühlt hat, alle Bildungselemente seiner Zeit in sich aufzunehmen und
seiner Kunst zuzuführen. Als höchster Leitstern seiner künstlerischen Gedanken galt
ihm das Princip der Schönheit; die Harmonie der constructiven Formen mit dem
decorativen Schmuck war ihm Lebensprincip. Darin liegt auch der eigenthümliche
Reiz seiner kirchlichen Bauten im gothischen Stile, weil sie bewegt sind von einem
eigenthümlichen Schönheitsgefühle. Darum verwendete Ferstel die Polychromie,
welche er als Lebenselement eines jeden architektonischen Baues betrachtete, stets in
massvoller Weise und mit innerer Empfindung. Der Schönheitssinn, welcher Ferstel
beseelte, zeigt sich auch bei kleineren Bauten, welche derselbe ausgeführt hat, wie
z. B. bei der Kunstgewerbeschule des Museums mit dem Verbindungsgange, dann bei
dem Schulhaus in Grinzing und seiner eigenen Villa daselbst. Es wird mir wohl in
der nächsten Zeit Anlass gegeben werden, eingehender die Verdienste Ferstels auf
dem Gebiete der Kunsttechnik und dem, was man Kunstindustrie nennt, zu würdigen,
sowie jene kunsttechnischen Zweige in Oesterreich hervorzuheben, welche speciell
durch Ferstel künstlerisch belebt worden sind.
Dass ein Künstler wie Ferstel, dem Schönheit und Harmonie das innerste
Lebensprincip gewesen sind, mit dem modernen Barockismus sich nicht befreunden
konnte, begreift Jeder. Alle seine Bauwerke sind ohne jede Zuthat von Barockismus.
Ständiger Mitarbeiter des Wiener Ingenieur- und Architekten-Vereines, sind auch die
meisten seiner Werke in dem Organe dieses Vereines abgebildet und von ihm erläutert.
Ein sehr interessantes Project verdanken wir Ferstel in seinem Entwürfe für das
Reichstagsgebäude in Berlin. Eine Denkschrift, welche diesem Entwürfe beigegeben
und im Jahre 1882 gedruckt erschienen ist, erläutert die Anschauungen des Künstlers
über Stil in umfassenderWeise. Dass das Project an und für sich eines der geistvollsten
war, welche aus diesem Anlass zum Vorschein kamen, darüber waren auch die com-
petenten Stimmen in Berlin einig. Wenn es aber trotzdem nicht zur Ausführung ge
kommen ist, so liegt die Schuld wie aller Orten auch in Berlin an dem Einfluss von
Elementen, welche sozusagen überall die natürlichen Gegner eines jeden freien selb
ständigen Künstlers sind. Darum hat sich auch in Berlin der Haken gefunden, um
das Project Ferstels bei Seite zu schieben. Auf dieses Project des verstorbenen
Künstlers und die dasselbe begleitende Denkschrift hinzuweisen halte ich für meine
37