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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXII (1977 / Heft 154 und 155)

Weltkunst hat die Moderne beeinflußt, die Ma- 
derne aber umgekehrt die Tantra-Kunst. Da es 
„die" Tantra-Kunst als objektive, unwandelbare 
Gegebenheit nicht gibt, ist diese Feststellung 
nicht so absurd. Denn die Sicht von der Tantra- 
Kunst ist erst durch die Analogisierungsmöglich- 
keit mit der Moderne entstanden. Wir haben 
nicht „den" Gegenstand, sondern nur das „BiId", 
die Vorstellung desselben. Und dieses „Bild" ist 
erst zehn Jahre alt. 
Noch Heinrich Zimmer (1890-1943), der bedeu- 
tende lndaIoge-Kunsthistariker, hat var der Be- 
handlung der Kultbilder als Kunst ausdrücklich 
gewarnt". Er hielt eine Wiedergabe der lkano- 
graphie und der ursprünglichen Verwendung 
etwa der Yantras (abstrakte Kultbilder) als reali- 
tätsentrückende, in das Unbewußte vordringende 
Meditationsinstrumente für wesentlich. Damit er- 
weist er sich bei aller religionshistorischen, seit- 
her kaum mehr erreichten Meisterschaft der 
Darstellung als Kind seiner Zeit". 
Das nun erstmals historisch sichtbar gewordene 
Kunstverständnis der zwanziger Jahre, wie es 
das Jahr 1977 in mehreren Ausstellungen, vor 
allem in Berlin", darbot, ist dem Zimmers in für 
Der Kunsthistariker, der nicht imstande ist, eine 
Ordnung zu schaffen, dem sich die verschiedenen 
Werke weder als historische Folge noch als kul- 
turgeographische Einheit zeigen, hat sich auf 
seinen Ausgangspunkt zurückzuziehen. Auch 
wenn es gelingen mag, nach und nach einzelne 
Bilder in den allgemeinen Strom indischer Kunst 
einzubinden, so bleiben manche Qualitäten be- 
stehen, die vorher unbekannt waren und die 
heute vor allem Künstler und Kritiker, weniger 
den Kunsthistariker, ansprechen. 
Die ahistorische Tendenz, aufgrund dieses Inter- 
esses eine gemeinsame Schicht menschlicher 
Kreativität anzunehmen, leidet unter einer op- 
tisch-perspektivischen Täuschung. Wenn versucht 
wurde, ausgewählte Kriterien moderner Kunst 
mit solchen der Tantra-Kunst zur Deckung zu 
bringen, formal etwa einen Kreis mit einem an- 
deren (Abb. I, 2), so beschränkt man sich immer 
auf einen Aspekt. Man glaubt nun, daß die 
„Schnittmenge" beider Kriterienmengen die all- 
gemein-menschliche Sphäre sei. Jedoch beträgt 
die Schnittmenge aller Kunstbereiche, Kriterien, 
Aspekte (nicht nur dieses einen, nämlich „Kreis") 
gleich Null. 
2 
Aber - und das ist wohl das Entscheid 
die Möglichkeiten, Aspekte, wenn auch l 
schiedenen Werken gänzlich verschiedene 
notwendigerweise formaler Art, zu koord 
verweist auf den subjektiven Standort de 
preten oder naiven Betrachters wie auf l 
flex objektiver Tatsachen. Dieser dial 
Kontakt zwischen Subiekt-Obiekt bietet 
dem die Falie differenzierter Fragestellun 
nach den Gemeinsamkeiten, sondern nc 
Unterscheidungen, welche die historische 
wieder herstellen. 
Es mag sein, daß das Einsetzen dieser 
dischen Vermittlungsebene zur Klärung (ni 
der Tantra-Kunst beitragen könnte. Das 
Folgenden praktisch an einigen Beispie 
zeigt werden. 
lll. 
Die Darbietung der Tantra-Kunst verwei 
in ihrer Uneinheitlichkeit auf die Schwierig 
in der Kunst der letzten Jahrzehnte ei 
meinsame Linie festzustellen - ein Umsta 
ganz allgemein den Stilbegriff diskrediti 
Betrachten wir noch einmal den Gegensi 
3 
 
uns entscheidenden Punkten vergleichbar". Vor 
allem die lnfragestellung der Realität als den 
verschiedenen Strömungen (Konstruktivismus, 
Surrealismus-Realismus,Dada) gemeinsames Mo- 
ment und der Verlust des Abbildes in der gegen- 
standslosen Kunst haben sein Augenmerk auf die 
Yantras gerichtet. Zimmers Betonung der funk- 
tionalen Gleichheit aller Pratimas (Kultbilder), ob 
abstrakt oder figurativ, seine Schilderung des 
Pranapratishta (Belebung der Kultbilder), in wel- 
chem das energetische Liniennetz mit einer Gott- 
heit identifiziert wird, findet in der Kunst seiner 
Zeit als eine Parallele das Werk Oskar Schlem- 
mers. Dieser hat die Geometrie als Ausdruck der 
Ordnung des Kosmos verstanden, und seine 
Menschengestalten werden oft so reduziert, daß 
sie in Liniengefiige übergehen oder aus ihnen 
entstehen - seine Abstraktion ist wie die der 
Yantras nie gegenstandslos. 
Das Spektrum der Tantra-Kunst hat sich seitdem 
grenzenlos erweitert. Das entspricht dem Bedeu- 
tungswondel unseres Kunstbegriffes. Die Ent- 
wicklung der Kunst der letzten fünf Jahrzehnte 
hat den Blick auf Gestaltungen gerichtet, die 
vordem unbekannt waren, weil sie nicht gesehen 
werden konnten. Darüber hinaus haben sich die 
Reproduktionsmöglichkeiten in vorher nicht ge- 
kannter Weise der Interpretation, um nicht zu 
sagen der Verfälschung und Manipulation, be- 
mächtigt. Vor allem das Näherrücken des Stand- 
punktes, die Isolation von Bildteilen, das Monu- 
mentalisieren von Manuskriptillustrationen, das 
willkürliche Beschneiden der Ränder bis zu den 
Verfälschungen durch Farbhochglanzdrucke, all 
das verunklärt die Zusammenhänge und hat neue 
Gegenstände geschaffen. 
38 
I Kosmisches Mandala (Kreis), Uttar Pradesh (17. 
Jh.?), Gouache. Das Universum im Ausgleich 
zwischen Evolution und lnvolution 
2 Kenneth Noland: Mercer, 1962. l 
Im Gegensatz zu Abb.1 asymboIisch-ästhetischer 
Signalismus 
3 Die Ursilbe OM in Likhit-Japo (Schrift-Rezita- 
tion), Benares, zeitgenössisch. 
Die Vorstellung einer lsomorphie von Sprache- 
Laut und Formen führt zu Schriftbildern oder 
Kombinationen von formalen und schriftlichen 
Elementen 
4 Yoni, Uttar Pradesh (17. Jh.?), Gouache. 
Das weibliche Organ, als dynamisches Prinzip 
der Weltenschöpfung, entspricht dem auf der 
Spitze stehenden Yantra-Dreieck (Abb. 6). Die 
vier Kreise sind die Gunas (Urquolitäten) und 
das Ich-Bewußtsein 
5 Astrolagisches Diagramm, Raiasthan (17. Jh.?), 
Gouache. 
Das Koordinatenfeld erfährt einen Impuls durch 
den links eingeführten schwarzen Lingam (Phal- 
Ius). Im Unterschied zu damit verglichenen Bil- 
dern von Paul Klee gibt es wenige geometrisch 
fixierte Farben und keine eigene Monumentali- 
töt 
Anmerkun en13-2O _ _ _ 
" Zimmer, einrich: Kunsttorm und Yoga im indischen 
Kultbild,1926, Frankfurt a. M. 1976, s. sa, i4_8,_257, u. q._ 
" Ob seine idealistische Ansicht von der religiösen Basis 
indischer Kunst angemessen ist, wird_in Anbetracht 
künstlerischer Praxis bezweifelt. Saraswati,  K.: lndian 
Art, artists point of view. lndian Aesthetics and Art 
Activity, Simla 1968, S. B9 f. _ 
"Tendenzen der zwanziger Jahre, 15. Europäische Kunst- 
Ousstellung, Berlin 1977. 
" Es ist kein Zufall, daß mit dem Interesse an der 
Kunst der zwanziger Jahre auch das Interesse an den 
damaligen Interessen erwacht ist. Zimmers wichti ste 
Bücher sind in den letzten Jahren wieder aufge egt 
worden. S. Anm. 13, Indische M then und Symbole, 
Düsseldorf, Köln 1972, Yoga und uddhismus, Indische 
Sphären, Frankfurt a. M. 1973. 
" Kultermann, Udo: Neue Farmen des Bildes, Tübingen 
W69, S. 47. 
"Freundin, Heft I6, 1977. Test: Gehen Sie gleich aufs 
Ganze, wenn Sie verliebt sind? 
"VflBSEfl-Ilhddlll: Robert Delaunay, Licht und Farbe, 
Köln 1967, S. 9. 
"Charan, Jean: Geschichte der Kosmologie, München 
1970, S. 220. 
beiden Kreise (Abb. 1, 2). „Der Kreis sp 
Grundform in Analogie zum Kosmischen 
Kunst der Vergangenheit sowohl in Chii 
Indien als auch in der europäischen Kui 
Mittelalters und der Renaissance eine bes 
Rolle. Der Kreis ist eine Endform, Ausdrucl 
ster Vollkommenheit, eine Ganzheit, die wi 
andere in sich geschlossen ist"". 
Das Mandala (Abb. 1) aus einem Man 
verweist als Abbild auf die Struktur des g 
ten Kosmos, die Kreisscheibe (Abb. 2) er 
als ästhetisches Zeichen mit Signalwirkung 
ikonographische Bedeutung in perfekt tech 
Ausführung. Aber auch Tantra-Werke, vi 
schon erwähnten Yantras, können in matt 
scher Klarheit erscheinen. Und umgekehrt 
eines der wesentlichsten Charakteristik 
neueren Kunst, daß die Sorgfalt der Ausfi 
vällig belanglos geworden ist, man der 
Dieter Roth oder Joseph Beuys. 
Aus demselben Manuskript sind einige Abl 
gen in dieser Sicht erwähnenswert. Etwa 
Herzen von Jim Dine erinnernde Yoni (A 
die wiederum, den gesamten Kosmos in sii 
gend, als weibliches Organ, Symbol der 
den dynamischen Aspekt der Weltentst 
darstellt. 
Aus einem anderen Manuskript stammen 
beiden Srshti, die Weltenschöpfung in 
Phasen darstellenden Blätter (Abb. 6), der: 
male Erscheinungsweise so selbstverständli 
mutet, daß sie gar für papulär-psycholc 
Testbilder Verwendung fanden". 
Seit Robert Delaunays Farbfigurationen i 
zwanziger und dreißiger Jahren, die sicl 
Gegenstand lösten, sind die Perzeptionsv
	        
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