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immer mii dem Augenblicklichen. Seine Kraft zum Nachdenken
ist unentwickelt, und so übersieht er selbst jene einfachen, lebens
wichtigen Dinge, die neben ihm aufwachsen, und mit denen er
eines Tages, als seinem Geschick, zu rechnen haben wird. Dieser •
Tag wird ihn unvorbereitet finden. Der klare Verstand solcher
Leute, die Weite ihrer Einbildungskraft, der scharfe Blick, der kräf
tige Wille setzen uns manchmal in Erstaunen. Aber wenn wir näher
nachprüten, finden wir, da& all dies nur ein glänzender Oberbau
ohne tiefere Fundamente ist.
So haben wir an den Polen unseres Denkens zwei Klassen von
Menschen, von denen jede glaubt, daß sie sich mit Wirklichkeiten
beschäftigt. Tatsächlich arbeiten beide nur mit Ausschnitten oder
Phantomen; sie haben beide zusammen alles studiert, nur nicht das
Wichtigste, die letzten wirklichen Gedanken, die Wahrheit, die
tieferen Triebkräfte, das wirkliche Herz der Menschen. Sie haben
nicht genügend mit der einzigen Quelle sowohl der sozialen Be
ständigkeit, wie des sozialen Wechsels gerechnet. Wenn mit der
Zeit solche Gedankenfehler, die natürlich an Schärfe zunehmen,
zu schmerzlichen Ausgleichen führen, so wird dies nur das natürliche
und unvermeidliche Ergebnis verhängnisvoller Mißverständnisse
sein, die Folge des unheilvollen Mangels, unvollständig zu denken
und in einer Art, die uns von unseren Nebenmenschen hinwegtührt.
Wenn ich nun sage, daß dieses Bild unserer Gedanken natür
lich auch in unserer Architektur zu lesen ist, so sage ich nicht viel
und auch nicht wenig. Wer nur will, kann es unschwer mit mir er
kennen. Alles steht ja vor uns. Wir haben vollkommene Muße.
Das Bauwerk hat keine Möglichkeit der Bewegung; es kann sich
nicht verbergen und uns nicht entgehen. Da ist es, — und berichtet
mehr Wahrheiten über den, der es erdachte, als er in seiner Einfalt
sich träumen ließ. Es enthüllt seinen Geist und sein Herz genau in
ihrem wahren Wert, keine Spur mehr, keine weniger. Das eine
sagt uns: „Ich bin ebenso wenig ein echtes Bauwerk, wie der
Mensch, der mich schuf, ein echter Mann war!“ Das andere läßt uns
deutlich und mit Freude die ehrliche Anstrengung eines Mannes
erkennen, der etwas Echtes schuf, ln einem dritten mag man einen
Geist erkennen, der vielleicht noch unfertig und seiner selbst noch
nicht ganz sicher, aber doch mutig genug war, einen Weg zu suchen.
Einen Mann, den man ermutigen sollte, anstatt ihn durch Spott zu
unterdrücken. Gerade ihm müßte man sagen: „Lerne noch mehr
Natürlichkeit, lerne. Deine Aufgabe auf ihre einfachsten Formen zu
bringen; laß alle Fragen, so verwickelt sie scheinen, zu einer Ein
fachheit kommen. Nimm diese Einfachheit auf, verliere nicht den
Mut. Denn Du bist hier an dem Punkt, den die Menschen so achtlos