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Volltext: Monatszeitschrift VIII (1905 / Heft 1)

Heirzrirb Benedikt 
DAS FRIEDENSWERK 
DIE EUROPÄISCHE BEDEUTUNG DES WIENER KONGRESSES 
Nach den Erfahrungen mit den unseligen 
Verträgen, welche den beiden Weltkriegen 
unseres Jahrhunderts folgten, muß das Frie- 
denswcrk nach der Niederringung Napoleons 
als ein W'under der Vernunft erscheinen. Wie 
glücklich war das Meisterwerk der Diplomaten, 
daß der Kongreß, der es krönte, tanzte und 
selbst der Vertreter des nach mehr als zwei 
Jahrzehnte dauerndem Kampf besiegten 
Frankreichs sein Tanzbein geschwungen hätte, 
wäre es nicht lahm gewesen. Der Wiener 
Kongreß bietet als Operette der Weltgeschichte 
eine Fülle von Unterhaltung. Auf welche 
Damen das Auge des schönen Zaren fiel, 
wer mit wem zarte Bande knüpfte, die rau- 
schenden Feste und die stillen Intrigen ge- 
währen der Phantasie einen weiten Spielraum. 
Wohl lachten die Wliener über die lustigen 
oder komischen Potentaten, bestaunten die 
Pariser Toiletten der Damen, die prächtigen 
Karossen und edlen Pferde, aber meistens 
raunzten sie über die Teuerung, die durch 
die Gäste hervorgerufen wurde, und diese 
klagten über die mangelhaften Unterkünfte in 
der für die vielen Besucher nicht eingerichteten 
Stadt, über die Diener, welche sie bewachten 
und bestahlen, über Wirte und Kutscher, 
welche sie wurzten. 
Hinter den Kulissen des prächtigen Aus- 
stattungsstückes arbeiteten die Diplomaten an 
der Neuordnung Europas, welche während 
genau hundert Jahren die Welt von einem 
neuen Weltkrieg verschonte. Mehr als die im 
Lichterglanz erstrahlenden Ballsäle verdienen 
die Konferenzzimmer die Aufmerksamkeit der 
Nachwelt auf sich zu ziehen. Vor allem aber 
soll die Erinnerung daran festgehalten werden, 
wie die verbündeten Sieger das zu ihren 
Füßen liegende Frankreich behandelten. 
Als der Wiener Kongreß zusammentrat, war 
die französische Frage bereits durch den 
ersten Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 
geregelt. Frankreich behielt seine alten Gren- 
zen. „Einzig das Haus Bourbon konnte", 
wie Talleyrand bemerkte, „die Rachegefühle 
abwenden, welche zwanzig Jahre voller Frevel 
gegen Frankreich aufgehiuft hatten." Aber 
die Demütigung Frankreichs durch seine 
Besiegung wurde durch die alliierte Besatzung 
verstärkt, wenn auch ihr Auftreten nach dem 
Maßstab der Gegenwart äußerst schonend 
war. Das leidenschaftliche Verlangen, die 
Schande der Unterwerfung und der Besatzung 
zu tilgen, hat in den Franzosen jenes patrio- 
tische Gefühl der Rache erzeugt, das während 
eines Jahrhunderts ein wesentliches Merkmal 
ihres Volkscharakters blieb. 
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Das Friedenswerk gelang, weil die Staats- 
männer, welche die Weltkarte revidierten, 
europäisch dachten, der Geist, den ihre Zeit 
atmete, vom Begriff der europäischen Einheit 
erfüllt und noch nicht vom nationalen Ge- 
danken zersetzt war. An der Legitimität der 
Regierung Napoleons, die erst mit seiner 
Abdankung ein Ende nahm, wurde nicht ge- 
zweifelt. Kaiser Franz wies die Bitte der 
Venetianer, die seine Untertanen geworden 
waren, die Pferde des Markusdoms und den 
Markuslöwen nach Venedig zurückzuführen, 
ab, weil ihre Entführung nach Paris durch 
einen dazu berechtigten legitimen Herrscher 
erfolgte. 
Über die Kriegsschuldfrage glitt man mühelos 
hinweg, indem man Frankreich dem recht- 
mäßigen Erben zurückgab, von dem keine 
Sühne und erst im zweiten Pariser Frieden 
vom 20. November 1815, der auch die Rück- 
führung des geraubten Kunstgutes ermög- 
lichte, ein Beitrag zu den Kosten seiner Wieder- 
einsetzung verlangt wurde. Die Sühne wurde 
als innere Angelegenheit angesehen und mit 
der Errichtung der Chapelle Expiatoire an 
unaufdringlicher Stelle abgetan. 
Frankreich blieb drei Jahre von 150.000 Öster- 
reichern, Preußen und Russen unter Wellington 
besetzt. Unter seinem Vorsitz überwachte die 
ständige Botschafterkonferenz der vier Alliier- 
ten die Regierung. Sie bildete kein Hemmnis, 
sondern eine Stütze der Verwaltung. Im 
alliierten Rat Bel die Führung dem russischen 
Botschafter Pozzo di Borgo, dem Todfeind 
Napoleons und wie dieser ein Korse, zu, denn 
das letzte Wort in Paris hatte der Zar zu 
sprechen. Ihm zuliebe entließ Ludwig XVIII. 
Talleyrand, dem Alexander wegen des Ver- 
trags vom 3. Jänner 1815, den Frankreich mit 
England und Österreich schloß, um ein 
russisches Großpolen zu verhindern, ziirnte, 
und ernannte, um eine Milderung der Frie- 
densbedingungen zu erreichen, den einstigen 
Statthalter von Odessa, Duc de Richelieu, zum 
Präsidenten des Ministerrates. Der Allein- 
herrscher aller Russen belohnte die Unter- 
würfigkeit mit seiner entgegenkommenden 
Haltung beim Abschluß des zweiten Pariser 
Friedens, in welchem Frankreich nur die Saar 
abtreten mußte. 
Überall liberal außer in Rußland, schloß Alex- 
ander das Bündnis mit der Revolution zur 
Schwächung des Westens und zur Erreichung 
der Ziele der russischen Expansion. Er gab 
sich, wie Gentz an Metternich schrieb, alle 
Mühe, Ludwig XVIII. „die revolutionäre 
Lehre der Volkssouveränität aufzuzwingen". 
Der Zar warf sein Gewicht in die XVaag- 
schale der Volksvertretung gegen die Autorität 
der Krone. „Toutes les baionettes ettangeres 
qui etaient en France se reuniraient pour le 
soutien du Senat et de sa Constitution envers 
et contre tous." Er zwang dem König die 
Charte constitutionelle auf. Metternich nannte 
Ludwig XVIII. einen elenden Architekten, 
dem das Material des Ancien regime und des 
Empire zur Verfügung stand, um den Thron 
zu stützen, der aber die Ideen von 1789 wählte 
und im Glauben an einen gemäßigten Libera- 
lisrnus sich mit republikanischen Einrichtungen 
umgab. 
Der Weiße Terror, die Verfolgung der Bona- 
partisten, ging nicht von der Regierung aus, 
sondern von jenem Teil der Bevölkerung, der, 
ohne sich je für das Königtum gerührt zu 
haben, die Gelegenheit eines Beutezuges 
witterte. Als Napoleon den Bellerophon be- 
stieg, gab es nur wenige Franzosen, die sich 
zu ihm bekannten und nicht vergessen lassen 
wollten, daß sie je Vive PEmpereur geschrien 
hatten. Der Geist der Verfolgung trieb seine 
Opfer zusammen, die, wider ihren Willen zu 
Revolutionären oder Bonajaartisten gestempelt, 
den Kern einer Opposition bildeten, welche 
die Herrschaft der Bourbonen untergrub. 
Banden überfielen die Protestanten in Toulouse, 
Marseille und Avignon, weniger weil sie in 
den Hundert Tagen zum Kaiser hielten, als 
weil sie wohlhabende Kaufleute waren, bei 
denen es zu plündern gab. In Nimes rettete 
der Einmarsch der Österreicher die Protestan- 
ten vor der Vernichtung. Beamte wurden 
entlassen, weil sie unter Napoleon gedient 
hatten, und wurden durch unerfahrene Nie- 
mande ersetzt, die als einzigen Bcfähigungs- 
nachweis erbrachten, weder unter der Revo- 
lution noch unter dem Kaisertum eine An- 
stellung erlangt zu haben. Das Ansinnen, den 
Grafen von Chabrol, der den Posten des 
Seine-Präfekten bekleidete, abzusetzen, wies 
Ludwig XVlll. zurück: „Herr von Chabrol 
hat sich mit der Stadt Paris vermählt und ich 
habe die Scheidung abgeschafft." 
Der erste Pariser Frieden vereinigte ungeachtet 
der Bitte der belgischen Notabeln, unter 
österreichischer Statthalterschaft die tatsäch- 
liche Unabhängigkeit zu bewahren, Belgien 
mit Holland. Die südlichen Niederlande 
standen von 1714 bis 1794 unter der öster- 
reichischen llerrschaft. Metternich fiel es 
leicht, auf Belgien zu verzichten, dessen Verlust 
durch den Gewinn von Venetien und Dal- 
matien mehr als ausgeglichen war.
	        
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