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Nr. 15/16 
Internationale S a m m 1 e r - Z e i t u n g. 
plastischen Wirkung der übermenschlichen Gestalten 
gleichzukommen sich bemühte. Das seitwärts herab 
gesenkte Haupt des Erlösers sowie der ganze vordere 
Körperteil desselben befindet sich im tiefen Schatten. 
Das Antlitz Christi zeigt edlen, wehmütig milden Aus 
druck. Ebenso ist die Darstellung Gottvaters, der den 
gekreuzigten Erlöser in den Armen hält, in der Art, wie 
er sein an die Antike mahnendes, ideal abgeformtes, 
umstrahltes Haupt über den Leichnam seines innigst- 
geliebten Sohnes liebevoll und huldreich herabsenkt, tief 
ergreifend, hoheitsvoll im Ausdruck, groß in den Formen, 
erhaben in der Auffassung, majestätisch im mächtigen 
Faltenwurf drapierter Gewandung und erinnert an die 
gleich tiefsinnige Auffassung Dürers in seinem Ge 
mälde der Dreieinigkeit in der kaiserlichen Gemälde 
galerie in Wien. 
In holdseliger Anmut erscheinen die in den Wolken 
schwebenden Engelgestalten. Die Komposition ist 
schwungvoll, großartig aufgefaßt und dramatisch 
lebendig durchgeführt. Die Stimmung des Ganzen ist 
höchst feierlich und tief ergreifend. 
Die Ausfüllung des Raumes ist vortrefflich. 
Die Zeichnung ist voll Kraft und Energie, die Ver 
hältnisse vom vollendeten Ebenmaße; die Modellierung 
erscheint plastisch, aber nicht überall gleichmäßig durch 
gebildet. 
Die Farbe ist im Lichte leuchtend, klar, von goldig 
leuchtendem Schimmer im Fleischtone, in den Schatten 
tief, kräftig und gesättigt. Die Gesamtwirkung der Farbe 
warm, harmonisch, prächtig. 
So wird beim heiligen Nikolaus das Blau des oberen 
Teiles des Mantels mit dem dunklen Rot der sichtbaren 
Rückseite desselben durch das Goldbraun des breiten 
Saumes angenehm vermittelt. Dagegen ward der starke 
Kontrast zwischen dem dunklen Rot des Mantels und 
dem glänzenden Weiß der Alba durch den tiefen grauen 
Schatten, den der erstere auf die letztere wirft, abge 
schwächt und gemildert. Andererseits stimmt das Blau 
des Mantels mit dem gelben Lichtschein des Hinter 
grundes harmonisch überein. Von diesem duftigen gelben 
Schimmer hebt sich dann das dunkle Braun des be 
schatteten Körpers des Heilands durch wirkungsvollen 
Kontrast ab. Dieses letztere Braun geht sanft in den 
goldig leuchtenden Fleischton der im Lichte befindlichen 
Körperteile Christi über, um schließlich wieder in ein 
Gelbbraun des Mantels und ein blasses Braunrot des Ge 
wandes Gottvaters auszuklingen. 
Auch das gesättigte Rot der Ornate der beiden 
Schutzpatrone wird harmonisch kräftig vom grünlich 
blauen Hintergründe gesondert und abgehoben, während 
oben rechts der gelblichgrüne Grund mit dem warmen 
Fleischtone der in den Wolken schwebenden Engel einen 
reizenden Farbenwechsel bildet und effektvoll belebt 
wird. Die Pinselführung ist leicht, flüssig und breit, nur 
die Verbindung der einzelnen mitunter mangelhaft, wie 
überhaupt die Ausführung des ganzen Gemäldes wenig 
durchgebildet, zum Teil flüchtig erscheint, was aber eine 
charakteristische Eigentümlichkeit vieler unter den sehr 
zahlreich vorhandenen Werken Tintorettos ist. Denn 
Tintoretto arbeitete mit fieberhafter Hast, deren Ur 
sache zuin Teile in seinem feurigen, leidenschaftlichen 
Temperamente, vornehmlich aber in seinem rastlosen, 
ideenreichen Geiste, in seiner unermeßlichen Phantasie 
und in dem nach Betätigung derselben mächtig ringenden 
Drange, keineswegs aber in einer mangelhaften tech 
nischen Ausbildung zu suchen ist. Denn schon in seinen 
jungen Jahren erwarb er sieh eine solche Herrschaft 
über alle Ausdrucksmittel seiner Kunst, wie sie vielleicht 
von keinem früheren oder späteren Meister erreicht 
worden ist. So sind viele seiner Werke nur flüchtige Be 
tätigungen seiner unerschöpflichen Ideen, seiner schöpfe 
rischen Kraft. Man kann ihm aber nicht den Vorwurf der 
Zügellosigkeit, des Mangels an Studien oder gar der 
Roheit der Empfindung machen; denn er selbst pflegte 
zu sagen, daß das Studium der Malerei mühevoll sei und 
die Schwierigkeiten um so größer erscheinen, je mehr 
man sich vertiefe. »Schöne Farben,« meinte er, »seien in 
den Läden des Rialto zu kaufen, aber die Zeichnung sei 
nur mit viel Arbeit und langem Nachtwachen aus dem 
Schrein des Geistes herauszuziehen; darum ver 
stünden und üben sie auch so wenige aus.« 
Als einige Schwätzer den Meister nach Vollendung 
seines großen Werkes. »Das Paradies« in dem großen 
Ratsaale im Dogenpalaste zu Venedig fragten, warum er 
in der Ausführung seiner Werke nicht so sorgfältig sei, 
wie Bellini, Titian und andere alte Meister es gewesen, 
antwortete er: »Weil jene Alten nicht so viele hatten, 
die ihnen den Kopf zerbrachen.« 
Mächtig wirkend ist die Verteilung von Licht und 
Schatten, in deren Beherrschung er ein großer Meister 
war, und das geistvolle Helldunkel, welches viele seiner 
Werke ausstrahlen. Insbesondere effektvoll zeigt sich 
ersteres am Körper des Heilands. Die im Lichte sich dar 
stellenden Körperteile strahlen einen goldig leuchtenden 
Schimmer aus, der sich dann in die beschatteten Partien 
sanft verliert. 
Die an den vorderen Körperteilen des seitlich dar 
gestellten Leichnams Christi befindlichen und von den 
Konturen desselben nach außen begrenzten Schatten 
partien heben sich von dem gelben Lichtschein, der den 
Körper Christi umgibt, schroff ab, wodurch das 
mächtige Hervortreten der schön gebildeten Gestalt des 
Gekreuzigten bewirkt wird. Dieser Lichtschein ergießt 
sich dann über die Gestalt des heiligen Nikolaus, teilt 
sich auch den beiden anderen unten knienden Schutz 
heiligen mit und bildet zugleich das verbindende, die Ein 
heit der Darstellung und Handlung erklärende Element. 
Dieser die Handlung einheitlich zu einem Ganzen 
verbindenden Lichtwirkung bediente sich der Meister 
gerne, ja, sie bildet oft einen solchen Faktor in seinen 
Werken, daß er ihr alles andere unterordnet. Zugleich 
tritt dieses Licht in vielen seiner Schöpfungen in der 
Eigenschaft des Raumbildens, der Luftperspektive in 
großem Maße auf. 
Während nämlich bei den früheren Meistern der 
italienischen Kunst seit Giotto entweder die plastische 
oder die koloristische Richtung vorwiegend hervor 
traten, suchte Tintoretto diese beiden Richtungen zu ver 
einigen, und dies gelang ihm durch die Aufnahme von 
zwei anderen Prinzipien, der Raumwirkung und des 
Lichtes. So wurde der einzelnen Gestalten Plastik der 
einheitlichen Raumwirkung und die einzelne Farbe der 
einheitlichen Lichtwirkung untergeordnet. 
Daraus entwickelte sich ein neuer, freier, großer 
Stil, der die besonderen Vorzüge aller früheren Meister 
in sich vereinigt, dabei selbständig und harmonisch aus 
bildet. 
Die perspektivische Raumwirkung in den Werken 
der Meister des 15. Jahrhunderts von Massacio bis 
Mantegna, das Helldunkel Lionardos und Correggios, die 
Lichtwirkung Gentile Bellinis und Carpaccios, alle 
diese besonderen Vorzüge fanden bei ihm ihre Voll 
endung und einheitliche Verschmelzung, ohne dadurch 
einzeln wesentlich am besonderen Werte zu verlieren. 
Das aus der Verschmelzung aller dieser Vorzüge Ge 
wonnene war aber eine fast unbeschränkte Freiheit der 
dramatischen Darstellungsweisc seiner Aufgaben.
	        
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