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Internationale 
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Zentralblatt für Sammler, Liebhaber und Kunstfreunde, 
Herausgeber: Norbert Ehrlich. 
15. Jahrgang. Wien, 15. Februar 1923. Nr. 4. 
c üon after und neuer Spitze. 
Von Melanie Pollak, Wien. 
In unserer Zeit, die ja in allen Dingen der Kunst 
so sehr eklektisch ist, hat sich naturgemäß ein ausge 
bildetes Samrnlertum entwickelt. Es gibt wohl kaum 
irgendwelche Kunstschätze der Vergangenheit, die heute 
nicht gierig von Sammlern begehrt werden, sei es aus 
echtem Verständnis für den künstlerischen Wert dieser 
Gegenstände, oder sei es auch nur aus spekulativen Grün 
den. Denn mit Recht kann man ja annehmen, daß das, 
was schon durch Jahrhunderte geschätzt wurde, auch 
weiter seinen Wert behalten werde, während uns heute 
die Möglichkeit der rapiden Entwertung des Geldes so 
sehr bewiesen worden ist Man sammelt also in breiten 
Schichten so ziemlich alles, was der Mühe wert ist, zu 
sammeln — oder auch dieser Mühe nicht wert ist — 
bis auf Spitzen. Spitzen werden heute erstaunlich 
wenig begehrt, ihr Wert scheint nicht im Steigen, 
sondern eher im Fallen begriffen zu sein, und das ist 
um so befremdender, als wir es gerade hier mit einem 
Kunstzweig zu tun haben, dessen Blüte sicher in der 
Vergangenheit liegt, und der möglicher Weise ganz 
dem Absterben gewidmet ist. Um so höher müßte man 
also die vorhandenen Stücke einer vergangenen Zeit 
werten, sollte man meinen. Die Ursachen des Verfalls 
der Spitzenkunst und auch der geringen Kauflust auf 
diesem Gebiete lassen sich wohl erklären. Doch davon 
will ich später sprechen. Zunächst möchte ich hier 
einen flüchtigen Ueberblick darüber geben, was die 
Spitzen in vergangenen Zeiten bedeutet haben, und 
wie ihre Entwicklung sich gestaltet hatte. 
Wir nehmen bisher an -— vielleicht ist es aber 
nicht ganz richtig — daß im 16. Jahrhundert, und zwar 
in Venedig, die ersten Spitzen entstanden sind. Der 
Gedanke, Spitzen zu schaffen, ist nicht der plötzliche 
Einfall eines einzelnen Erfinders gewesen, sondern aus 
der alten Knüpftechnik der Macramearbeit, und aus der 
Durchbruchsarbeit der Leinwand (punto tagliato und 
punto tirato) wächst allmählich die freie Spitze (punto 
in aria) heraus. Das ewig bestehende Schmuckbedürfnis 
der Menschen hat auch diesen Kunstzweig geschaffen, 
und die Gebundenheit an die Bedingungen des Stoffes 
—- die Technik — wird ausschlaggebend für die Ge 
staltung. Künstlerische Form und Technik gehen einen 
Bund miteinander ein; zuerst ist es die Schwierigkeit 
der Technik, die die Form hauptsächlich bestimmt, wie 
die R e t i c e 11 a a r b e i t, die frühe Renaissancenadel- 
spitze, beweist. Sie ist an. jene Muster gebunden, bei 
denen einzelne stehen gelassene Leinwandfäden noch 
das Gerippe bilden, innerhalb welches sich das er 
fundene Muster einfügen kann. Diese senkrecht und 
wagrecht stehen gelassenen Fäden bedingen die strenge 
Gliederung der Renaissancespitze, was sich so sehr mit 
dem Geschmacke und der ganzen Kunstanschauung der 
Zeit verträgt. Doch dieser Zwang wird bald überwunden. 
Sowohl die Näh- als auch die Klöppelspitze, deren 
Ursprung wir mit aller Wahrscheinlichkeit auch in die 
erste Hälfte des 16. Jahrhunderts nach Italien verlegen, 
befreien sich von der ursprünglichen Gebundenheit in 
dem Augenblick, als ein anderes Kunstwollen andere 
Formen bedingt. In freier Beherrschung der Technik, 
nach anderen künstlerischen Erwägungen, schafft die 
Barock- und die Rokokospitze das Schönste, was wir 
in dieser Kunstgattung besitzen. 
Im 17. und 18. Jahrhundert wetteifern die ver 
schiedensten Länder miteinander, um sich an Erfindung 
und Ausführung in diesem Kunstzweig zu übertreffen. 
Italien mit seinen „Point gros“- und „Point plat“-Spitzen, 
die hauptsächlich in Venedig verfertigt werden, Genua 
mit seinen Gold- und Silberspitzen, Mailand mit seinen 
großmustrigen Klöppelspitzen, sie ringen nun gewaltig 
um die Vorherrschaft auf diesem Gebiete, die ihnen 
von Frankreich und. den Niederlanden strittig gemacht 
wird 
In Frankreich hatte Colbert sehr wohl erkannt, 
welche wirtschaftliche Bedeutung die Spitzenmanufaktur 
als Einnahmsquelle für das Land haben könne, und so 
werden nun in Tülle, in Alengon, in Arras, in Argentan 
und in anderen Städten von den fleißigen Händen der 
Französin wahre Wunderwerke der Nadelkunst herge 
stellt. Insbesondere der „Point de france“, der den 
frühesten Typus der genähten Grundspitze darstellt, ist 
gleich bewundernswert an Ausführung und Erfindung. 
Es ist zwar bisher nicht mit Bestimmtheit nachgewiesen 
worden, daß bedeutende Künstler die Entwerfer dieser 
einzigartigen Spitzen am französichen Hofe von Louis XIV. 
und Louis XV. waren, aber wir kennen diese Spitzen 
zeichner nur vielleicht deshalb nicht, weil, glaube ich, 
noch niemand sich die Mühe genommen hat, dieser 
Frage ernstlich nachzugehen. Die Scheidung zwischen 
hoher Kunst und Kunstgewerbe ist ja erst die traurige 
Erfindung des 19. Jahrhunderts gewesen, ln früheren 
Zeiten haben große Künstler wie Botticelli und Raffael, 
wie Rubens und Lebrun es nicht verschmäht, Zeich-
	        
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