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Inhaltsverzeichnis: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

aus tüchtiger, geschulter Handarbeiter zu den Seltenheiten 
gehört. 
Der enorme Andrang zu den sogenannten gebildeten Ständen 
hat natürlich die weitere Folge gehabt, daß dem Handwerker^ 
stand die intelligenten Kräfte, die er nicht entbehren kann, 
größtenteils entzogen wurden und dadurch dem herrschenden 
Vorurteil ein Schein von Berechtigung zukommt. Die be^ 
obachteten Fälle von Roheit, Mißbrauch der Lehrlingskraft, 
Verrohung der Sitten und andere Mißstände halten vielfach 
die Eltern gegen ihre bessere Meinung davon ab, ihre Söhne 
ein Handwerk ergreifen zu lassen. Aber diese Mißstände 
sind nicht von Dauer und verschwinden in dem Augenblick, 
wo sich unser Verhältnis zur schöpferischen Arbeit ändert. 
Seit Jahren sieht man den besseren Teil der Arbeiterschaft 
mit Erfolg tätig, alle Bildungsmittel zu ergreifen und aus 
ihrem Stande Elitemenschen zu erziehen, und überdies ent^ 
wickelt sich aus dem kunstgewerblichen Arbeiter eine Klasse, 
die berufen ist, die Mauern des lächerlichen Standes vor ur^ 
teils niederzuschleifen. Indessen veraltete Konventionen als 
leere Daseinsformen vorderhand noch bestehen, hat sich das 
Gefüge der Lebensmächte allmählich zu gunsten jener ver 
ändert, die am Weltbau werktätig mit produktiver Arbeit 
mittun, und die mit der Zeit auch eine gänzliche Umwertung 
der gesellschaftlichen Begriffe herbeiführen werden. 
Ein Beweis für diese Verschiebung des Schwerpunktes und 
die Heerscharen der Enttäuschten, die zielverloren über eine 
verfehlte Existenz klagen, und als Warner die ausgetretenen 
Straßen füllen. Der Strom des Lebens geht in anderer Richtung. 
Die Scharen der Nachzügler werden umkehren, wofern sie 
die Gelegenheit nicht versäumt haben, und jene Arbeits 
berufe füllen, die der Intelligenzen dringend bedürfen. 
Die drängenden Massen haben allerdings eine nicht zu unter 
schätzende Kulturarbeit geleistet: die Verallgemeinerung des 
Wissensmaterials. Nachdem alle Kreise damit gesättigt werden 
können und Wissen als kein Verdienst, sondern als Selbst 
verständlichkeit gilt, drängt die Zukunft auf Entwicklung 
des Könnens. Wissen allein ist toter Ballast, wenn es nicht 
aus dem Können fließt oder unmittelbar für das Können 
fruchtbar gemacht werden kann als Vermehrung der Lebens 
güter. Lernende müssen wir bleiben bis ans Lebensende, 
nicht Lernende um des Lernens, sondern um des Könnens 
willen. Vor 150 Jahren hat Jean Jacques Rousseau das 
moderne Erziehungsideal in seinem „Emile“ entworfen, 
darin er einen Menschen zeichnet, der durch Erfahrung und 
Notwendigkeit sein reiches Wissen erlangte und gleichzeitig 
ein Handwerk verstand, sein Leben damit zu bestreiten. 
Rousseaus Ideen werden lebendig in dem künstlerischen 
Jahrhundert, an dessen Anfang die Worte stehen: KÖNNEN 
IST MACHT. Kunst ist von Arbeit schon deshalb nicht 
zu trennen, weil beide sich aus dem Können entwickeln; 
Wissen hat nur Sinn um des Könnens, um des Schöpferischen, 
um des Lebens willen; Kultur ist daher immer auf Können 
gegründet und eine Kultur des Denkens oder des Geistes, 
die nicht dieses Ziel der Verwirklichung hat, ist nicht mehr 
als ein schöner Betrug. Kunst aber ist die höchste Vollendung 
aller Arbeit; jegliche Arbeit kann künstlerisch betrieben, 
d. h. zur höchsten Vollendung gebracht werden. Sie wird 
es nie auf dem Wege des Zwanges und der Unlust; eine 
Arbeit künstlerisch betreiben heißt, ihr menschliche Züge 
zu geben, sie zum Ausdruck der Lebensfreude und der 
gesteigerten Fähigkeiten zu machen; wenn die Hervor 
bringungen auch dadurch allein nicht Kunst werden, so 
vermögen sie dadurch ein abgestuftes Verhältnis, einen 
Zusammenhang mit ihr auszudrücken, eine reine und har 
monische Menschlichkeit, die, wenn sie allen Dingen abzulesen 
ist, mit dem Worte Kultur bezeichnet werden kann. Darin 
zeigt sich die Kunst als wahre Demokratin, als Sache des 
Volkes, weil sie eine Sache der Arbeit ist, von der sie nie 
hätte getrennt werden dürfen. Als sie von ihr getrennt 
wurde, hat die Arbeit des Volkes unberechenbaren Schaden 
erlitten, hat die Volkswirtschaft den Charakter der Ausbeutung 
angenommen. Ausbeutung liegt nicht im künstlerischen 
Gedanken. Der Ausbau der Menschlichkeit in allen Dingen, 
die ihr Dasein umkleiden und vollenden, ist der Inhalt des 
künstlerischen Gedankens, während Unterdrückung und Ver 
nichtung der Menschlichkeit zu gewinnsüchtigen und ego 
istischen Unternehmerzwecken der Inhalt der heutigen Volks 
wirtschaft ist. Den künstlerischen Gedanken, d. h. die wert 
bildende Kraft des Talentes, die Entfaltung der Menschlichkeit 
in den Mittelpunkt der Volkswirtschaft zu rücken, ist Auf 
gabe der Kulturentwicklung. Die Volkswirtschaft muß diesen 
Inhalt haben, wenn sie ihrem Zwecke genügen, d. h. Kultur 
bilden soll. Anderseits werden wir zu keiner Kultur gelangen, 
wenn die Volkswirtschaft nicht diesen Inhalt bekommt. Wir 
haben heute keine festbegründete allgemeine Kultur, so 
wenig wir eine wahre Volkswirtschaft haben und ebensowenig 
finden wir in der Arbeit des Volkes das künstlerische Moment, 
d. h. das freudige, beglückende Streben nach Vollendung in 
allen Gebieten des menschlichen, sichtbaren Schaffens. Denn 
alles das hängt innerlich zusammen. Wir sehen die arbeitende 
Bevölkerung heute gegen die kapitalistische Ausbeutung der 
Menschlichkeit kämpfen, es ist ein Kampf um die primärsten 
Menschheitsrechte, um Forderungen des nackten Daseins. 
Es ist ein Kampf um den Lohn und um Verkürzung der 
Arbeitszeit, nicht ein Kampf um die Vollendung und Ver 
edlung der Arbeit. Auch das ist ein starkes Zeichen der 
Zeit. Von der Lohnarbeit ist zunächst gar nicht die Hingabe 
zu verlangen, wie sie der Künstler an seine Arbeit hat, 
denn die Lohnarbeit ist zum größten Teil in künstlerischer 
oder menschlicher Hinsicht (hier ist ein Zusammenhang zu 
merken) so entwertet, daß sie gar keine Befriedigung ge 
währen kann, als die etwa, nach den trostlosen Arbeitsstunden 
den Lohn zu erhalten. Diese Hingabe wird auch gar nicht 
verlangt, der Arbeiter wird in der Regel der Maschine gleich 
gestellt. Wegen der künstlerischen oder menschlichen Wert 
losigkeit ist die meiste Lohnarbeit für die Kultur unfruchtbar, 
sowohl für die Kultur der Gesamtheit, für die solche Arbeit 
geschieht, als auch für die Kultur des einzelnen, der solche 
Arbeit verrichtet. 
Wenn einmal der künstlerische Gedanke für die Arbeit wieder 
zurückerobert sein wird, dann wird die Hingabe an die Arbeit, 
der Wettstreit um die Vollendung selbstverständlich sein. 
In der kunstgewerblichen Arbeit finden wir eine solche Kultur, 
die auf Qualität gerichtet ist, in den Anfängen entwickelt. 
Die kunstgewerbliche Arbeit ist aus diesem Grunde von be 
sonderer Bedeutung; sie wird den Anfang einer Volkswirt 
schaft des Talentes bilden, die vorhanden sein wird, wenn 
das wirtschaftliche und soziale Dasein des arbeitenden Volkes 
gesichert und alle Kulturmittel seinem Leben dienen. Dann 
wird nur Arbeit getan, die wieder Kultur ist und den Aus 
druck der Freude und Hingebung trägt, und dann wird Kunst 
bei der Arbeit sein. 
Ich unterschätze keineswegs die Leistungen des XIX. Jahr 
hunderts, soweit sie Kulturmöglichkeiten erschließen. Natur 
wissenschaft und Technik haben eine Entwicklung herbei 
geführt, die ans Wunderbare grenzt. Berlin ist in den letzten 
fünfzig Jahren gewachsen und ebenso viele Städte, wie früher 
nicht in Jahrhunderten. Diese Menschenmassen zu versorgen, 
ihren Verkehr zu regeln, ihr Zusammenarbeiten zu fördern, 
hat es Einrichtungen geschaffen, die in organisatorischer Hin- 
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