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immer zu den besten Farbstoffen gehört; die schwarzen Fäden sind dagegen,
vom Farbstoff zersetzt, heute manchmal ausgefallen. Andere Teile sind durch
den Gebrauch abgewetzt, so daß die schwarze, anscheinend mit Rohrfeder
oder Pinsel aufgesetzte Vorzeichnung sichtbar wird. Bemerkenswert ist, daß
Fäden von ursprünglich offenbar gleicher Farbe ganz nahe bei einander sich
oft sehr ungleich erhalten haben, eine Erscheinung, die man übrigens auch
bei alten Geweben nicht selten beobachten kann. Man nahm in alter Zeit an
kleinen Farbennuancen wohl keinen Anstand; es machen sich aber im Laufe
der Jahrhunderte auch Verschiedenheiten geltend, die ursprünglich kaum zu
bemerken waren. Wir wissen heute ja, daß Klima, selbst Witterung während
des Spinnens, Färbens, Trocknens und natürlich auch die individuelle Ver
schiedenheit der Fäden nicht ohne Einfluß sind, wird doch die unerreichbare
Farbe der Kaschmirwolle gerade den Einwirkungen des Klimas während
des Färbens zugeschrieben. So unmerkbar die Unterschiede anfänglich sein
mögen, allmählich treten sie eben hervor. Es verleiten solche Verschiedenheiten
den unerfahrenen Beobachter oft dazu, Ausbesserungen oder Neuarbeit dort
anzunehmen, wo sie tatsächlich nicht vorhanden sind. Gerade bei unserem
Ornate ist, abgesehen von direktem Einsetzen ganzer Stücke, die übrigens,
wie sich zeigen wird, durchaus andern Teilen desselben Ornats entnommen
sind, verschwindend wenig nachgearbeitet worden und, wo es stattgefunden
hat, ist es ganz deutlich zu erkennen; so etwa im Gesichte des Engels bei der
Verkündigung auf dem Antependium (Abbildung auf Seite 5) •
Der vorherrschende Stich ist eine Art Gobelinstich, zumeist der senk
recht, manchmal der wagrecht versetzte; hie und da, zum Beispiele in ein
zelnen Bogenformen der Kasel, gelangt er auch zu freierer Anwendung.
Größere Teile der geometrischen Musterung, so die rechte Seite des Plu-
viales (Abbildung auf Seite 13), sind in einfachem Zopfstich ausgeführt;
andere Teile der geometrischen Musterung, zum Beispiele links unten an
der Rückseite der Kasel (Abbildung auf Seite 20), sind in einer Art Zopfstich,
die man heute als „persische Kreuznaht“ bezeichnet, durchgeführt. An ein
zelnen Stellen, so bei der Darstellung von Gewandmusterungen, gelangt auch
der Plattstich zur Anwendung. Die Umrisse (im Äußern und Innern der
menschlichen Gestalten, der Tierfiguren und so weiter) sind im Stilstich
ausgeführt.
Der Grund der Stickerei ist schüttere Leinwand, das Stickmaterial, wie
gesagt, offene Stickseide mit ganz schwacher Drehung, ungefähr das Ma
terial, das heute als „spanische“ Seide bezeichnet wird.
Die Flächen selbst sind ohne Schattierung ausgeführt; die Stichlagen
wechseln manchmal, zum Beispiele in den Gesichtern so, daß die Nase eine
andere Fadenrichtung zeigt als die übrigen Partien; von genauem Anpassen
der Stiche an die Formen kann aber nicht gesprochen werden.
Wir gehen nun zur Beschreibung der einzelnen Teile über.
* Von einigen kleinen grünen Seidenstoffteilen im Charakter des XIII. bis XIV. Jahrhunderts, die sich
eingesetzt finden und vielleicht einem selbst beschädigten alten Stücke entstammen, kann hier abgesehen werden.