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XV. Sektion: Zeichnen.
Diese Grundbedingungen für den Zeichenunterricht an den
Schulen für allgemeine Bildung waren wohl längst bekannt,
doch so wie anderwärts standen auch in Österreich der Entfaltung
des Gegenstandes nach dieser künstlerischen Seite hin die Lehrpläne
im Wege, welche noch von der Zeit her datierten, als das Zeichnen,
in den Dienst der gewerblichen Bestrebungen gestellt, an die bezüg
lichen Vorbilder gebunden war.
Mit dem Aufschwung und der vielseitigen Ausgestaltung des
gewerblichen Uuterrichtswesens in Österreich konnte sich im Zeichen
unterricht allmählich eine Sonderung der Interessen unter den Schul
kategorien vollziehen und so kam, unterstützt von dem modernen
Zuge der Kunst im allgemeinen, ein erfreulicher Wendepunkt für
den Schulzeichenunterricht. Der früher ziemlich isoliert stehende
Gegenstand gliedert sich nunmehr den übrigen Disziplinen harmo
nisch an.
Rascher, als man es geahnt hatte, vollzog sich in den letzten
Jahren in den Zeichensälen der gewerblichen Bildungsanstalten der
Umschwung zum Naturstudium. Seit der neue Kurs an der Zentral
stelle, im österreichischen Museum für Kunst und Industrie, unter
Direktor Hofrat Arth. R. v. Scala eingeschlagen wurde, hat das
Zeichnen für das Kunstgewerbe seine unmittelbaren Quellen wieder
gefunden und die schaffenden Künstler ihre Freiheit in der Pro
duktion.
Kann auch der Zeichenunterricht der Mittelschulen nicht in
direkte Parallele mit dem in den kunstgewerblichen Lehranstalten
geübten gestellt werden — da ja hier der Zweck des Zeichnens
ein anderer ist und die gebotene Zeit andere Forderungen bedingt
— so bleibt denn doch die Grundtendenz dieselbe, daß der For
mensinn nur durch das direkte Naturstudium seine Aus
bildung und Veredlung zu finden hat.
Mit den Instruktionen für die österreichischen Realschulen vom
Jahre 1899 und jenen für die Gymnasien vom Jahre 1900 wurde
mit den alten Schemen des Zeichenunterrichtes, dem übermäßig
Geometrischen, dem Kopieren historischer Flachmuster und farb
losen Gipsen gebrochen und das Naturzeichnen gestattet.
Nicht mit spontaner Umstürzung des Alten und der Einführung
problematischer Methoden wurden die neuen Wege betreten, son
dern mit stets kritischer Erwägung auf der sicheren Basis der Er
fahrung. Das gute Vorhandene erfuhr seine sukzessive Ausgestaltung
in Hinsicht auf das Natur zeichnen und in steter Berücksichtigung
des Zweckes des Zeichnens an der Mittelschule.
Unsere Lehrpläne enthalten die für das Naturzeichnen unum
gängliche feste Grundlage der Schulung sicherer Linienführung
(I. Kl.) und das systematische Perspektivzeichnen (II. Kl.). Nur mit
dieser Vorbildung kann bei gewissenhafter Wahl der Objekte das
freie Zeichnen rationell betrieben werden. Den Lehrenden ist in
den Instruktionen hinreichende Freiheit eingeräumt, den Unterricht
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