FRANK BRANGWYN UND SEINE KUNST 51h
VON P. G. KONODY-LONDONSP
IN moderner französischer Kritiker bezeichnet das
Kunstgefühl und den davon veranlassten Drang
'- zum künstlerischen Ausdruck als einen „sechsten
Sinn". Die Abwesenheit dieses „sechsten Sinnes"
ist wohl das charakteristischste Kennzeichen der
r('f_w-q neuesten englischen Kunst. Bei allem Reichthum
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' -' an Ideen, bei allem technischen Können, bei aller
Sorgfalt in der Ausführung macht sich der eine
. f" i? Mangel fühlbar: die Abwesenheit des künstlerischen
Künstlerseele vorgeht. Der Pinsel scheint immer von einem kalt erwägenden
Gehirne geleitet zu sein, nie von einem nervösen Impuls. Die brutal gesunde
Natur des Durchschnitts-Engländers würde es auch nicht verstehen, diesen
Kampf nach Ausdruck zu würdigen. Für ihn soll das gemalte Bild etwas in
sich Fertiges sein, und nicht der Ausgangspunkt für eine neue Gedanken-
thätigkeit.
Hierin mag wohl die Ursache dafür zu finden sein, dass Frank Brangwyn
in dem Lande, wo er schafft und wirkt, noch immer nicht die Anerkennung
findet, die seinen Schöpfungen gebürt und ihnen auch im Auslande reichlich
zutheil wird. Denn Brangwyn ist ein geborener Künstler, und der decorative
Sinn ist bei ihm derartig entwickelt, dass die ganze äussere Erscheinungs-
welt von ihm als decoratives Muster erfasst wird. Ein Geschmacksfehler ist
für ihn sozusagen unmöglich, da jeder Strich, jeder Farbenfleck mit staunens-
werter Genauigkeit an der einzig richtigen Stelle sitzt.
Wenn ich das Wesen dieses Mannes, der heute wohl den ersten Rang
unter Englands decorativen Künstlern einnimmt, als unenglisch bezeichnet
habe, so ist darin kaum ein Widerspruch gegen bestehende Thatsachen zu
finden, denn Frank Brangwyn gehört nach Abstammung und nach Geburt
nicht dem Lande an, dessen Sprache er zu der seinen gemacht - dem
Lande, das er zu seinem dauernden Wohnsitze erwählt. Das Blut, das durch
seine Adern fliesst, ist keltisch, oder vielmehr kymrisch von Seiten der
Mutter und vlämisch von Seiten des Vaters. Und Brügge in Belgien ist
seine eigentliche Heimat. Beiden Rassen ist das künstlerische Temperament
in hohem Grade eigen, obwohl sich dieses in Wales im allgemeinen
mehr auf dem Gebiete der Musik, des Gesanges äussert, als auf dem der
bildenden Künste. s
Wenn ein Vasari des kommenden Jahrhunderts aus gegenwärtig
bestehenden Aufzeichnungen eine Lebensgeschichte des noch ganz jungen
Künstlers zusammenstellen wollte, würde er überhaupt grosse Schwierig-
keiten finden, die Wahrheit aus den oft in grellem Widerspruch stehenden
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Instinctes, der Sehnsucht, auszudrücken, was in der '