508 DIE NADELMALEREIEN DER FRAU HENRIETTE MANKIEWICZ SC- VON MORITZ DREGER-WIEN 50 EHR oft, wenn ich neue Stickereien sehe, wird mir das Titelkupfer eines alten, deutschen Stick- musterbuches - ich glaube, es stammt aus dem XVII. Jahrhundert - wieder in Erinnerung gerufen. Da sitzen an einem Tische, den ein wunder- voller Blumenstrauss ziert, mehrere vornehme Damen und sticken die Blumen ab, die sie im Glase vor sich haben. Da wurde mir erst klar, was Nadelmalerei eigentlich bedeuten könnte. Wie selten kann man das heute im Leben beobachten! Gewöhnlich wird nachVorlagen gearbeitet; auch sind die Blumen oft gar wunderschön auf den Kanevas gemalt oder mit bunten Fäden roh angelegt. Bei Arbeiten, die streng stilisiert empfunden sind, liegt die Sache ja anders; wenn man aber naturalistische Formen wiedergeben will, dann darf man solche Umwege nicht machen, wie sie heute gemein sind. Jede Nachahmung eines Naturgegenstandes durch die Kunst gleicht der Übersetzung eines Gedankens in eine andere Sprache: das ist un- vermeidlich. Man darf aber nicht Übersetzungen von Übersetzungen machen. In Seide und Wolle muss man die Farben und Lichter ganz anders festhalten, als in Wasser- oder Ölfarben oder Kreiden. Man muss mit der Nadel die Farbe und das Glanzlicht direkt hinsetzen können wie mit dem Zeichenstifte oder dem Pinsel; man muss die Wirkung beim Arbeiten sofort sehen und mit dem Originale vergleichen, damit man den Nebenstrich oder den Nebenstich darnach richtet. So sind die herrlichen alten Barock- und Rokokostickereien geschaffen, so zaubern auch die Japaner ihre Nadelmalereien auf die Seide. Die Japaner haben dieser Art der Malerei noch eine besonders feine Ausbildung gegeben. Sie drucken oder malen tatsächlich auf die Seide und setzen nur jene Partien in Stickerei auf, die sich durch Seidenstiche besser wiedergeben lassen, als auf jede andere Weise. Der Glanz einer im Tau glänzenden Blume, das Schillern eines Vogel- oder Schmetterlingsl-liigels, das Glitzern des Schnees oder stürzenden Wassers kann kaum mit einem anderen Materiale so frei und leicht wirkend dargestellt werden, wie mit einem geschickt angebrachten Seidenstiche. Was die letzte Pariser Weltausstellung in dieser Beziehung bot, waren wirkliche Kunstwerke. Und es waren auch wirkliche Künstler, die das geschaffen haben.