Meinungsverschiedenheiten bestehen, so ist man doch wenigstens in dem Kardi- nalpunkte einig, daß nur die Rückkehr zur ewigen Quelle alles Schönen und Wahren - zur Natur - uns von dem unfrucht- baren Nachahmen der Schöpfungen verflossener Kunstperioden unabhängig machen und allmählich auch zu selbständigen Lei- stungen befähigen könne; heute darf kein Reform- programm, welches ernst genommen werden will, sich dieser Forderung ver- schließen und kein Lehr- plan, der als diskutierbar gelten soll, kann auf einer anderen als auf dieser Grundlage aufgebaut sein! Mit der Erkenntnis von dem unschätzbaren Wert des Naturstudiums für die Bildung des Geschmackes, „u; delices de Fenfance, Stich von j. j. Balechou nach Boucher die Weckung und Ver- edlung des Farben- und For- mensinnes ist schon ein großer Schritt nach vorwärts geschehen; merkwürdig bleibt in dem Entwicklungsprozesse des Zeichenunterrichtes nur das eine, daß man spät, sogar sehr spät zu dem erwähnten Wandel der Anschauungen gelangt ist und daß der vor 17 Jahren ergangene Mahnruf des Altmeisters Hirthik erst nach einem vollen Jahrzehnt allgemeinere Beachtung gefunden hat und schließlich in seiner Grundidee siegreich zum Durchbruche gelangt ist. Die Kunstgeschichte hätte uns ja schon längst lehren sollen, daß alle Kunst, von der Urzeit angefangen, in sämtlichen unabhängigen Stilepochen ein mehr oder minder ausgeprägtes Naturstudium zur Vorstufe hatte! Kann man sich denn die Meisterwerke der Plastik der Antike, ihre freie und edle Charakteristik, den hehren Ausdruck der seelischen Empfindungen, die anatomisch-richtige Durchbildung der Körperformen in Ruhe und Bewegung auf anderem Wege entstanden denken, als durch vorangegangenes, äußerst sorgfältiges Studium der menschlichen Gestalt? Finden sich nicht bei allen Stilarten Pflanzen- " Georg I-linh, Ideen über Zeichenunterricht und künstlerische Berufsbildung. München, 1887.