Der große Schatz an guten alten Leistungen hat auch das eklektische XIX. Jahrhundert ermutigt, bei öffentlichen Bauwerken dem monumentalen Treppenhaus seinen Platz zu geben. Wenn man die Parlamentsgebäude, Rathäuser, Universitäten und Theaterbauten jener Zeit nach dem Wert und der Bedeutung ihrer Treppenanlagen prüft, so wird man eher ein Zuviel als ein Zuwenig an gutem Willen finden. Die Prachttreppe wurde zur gefährlichen Klippe, an der manches Werk scheitern konnte, weil sein Architekt mehr Interesse an einem Bravourstück seiner Phantasie und historischen Bildung als an dem eigentlichen Zweck seines Bauwerks nahm. Es ist für jene Zeit charakteristisch, daß viele Monumentalbauten an einem Überfluß an Prunk- treppen kranken, die nie ihren eigentlichen Zweck erfüllen konnten, weil nie- mals das volle Bedürfnis für sie eintrat, dafür aber nahmen sie wichtigen anderen Zwecken Raum und Mittel weg. Als ein Muster maßvoller und edler Raumkunst mag die Haupttreppe des Wiener Opernhauses genannt werden, als ein Beispiel eines sehr weit getriebenen Treppenluxus die Wiener Uni- versität und als ein abschreckendes Beispiel falsch angewendeten Prunkes das Treppenhaus des einst gepriesenen Wiener Nordbahnhofes. Die modernen Anschauungen verpönen solches Spielen mit Formen und Gebilden, die nicht aus dem Bauproblem unmittelbar hervorgehen, Schöpfungen, welche nur aus dem Wunsch entstanden, mit Leistungen zu wetteifern, die in den früheren Epochen aus einem Bedürfnis herauswuchsen, für unsere Zeit aber nicht mehr wertvoll sein können. Hingegen entstanden auf dem Gebiet des T reppenbaues durch Anwendung neuer Materialien und Konstruktionen, durch Lösung neuer Raumfragen und Befriedigung veränderter Verkehrsbedürfnisse Werke von spezifisch modernem Charakter, die künstlerisch sehr befriedigen. Eisen und Betoneisen gestatten heute Konstruktionen von einer Kühn- heit der Konzeption und Ausführung, welche frühere Zeiten nicht kannten, und je mehr wir den Mut finden, diese Stärke unserer Zeit zu betonen und zum Ausgangspunkt der Entwürfe zu machen, desto sicherer werden wir zu selbständigen und befriedigenden Lösungen auch auf einem Gebiete gelangen, auf dem die Vergangenheit uns so viel vorweg genommen hat. Anderseits bieten der enorm gesteigerte Verkehr in den großen Städten, die neue Art von Raumproblemen, wie sie bei Ausstellungsgebäuden, Bahn- hofhallen, Brückenbauten etc. entstand, Veranlassung genug, dem Treppen- bau spezifisch moderne Formen zu geben, die künstlerisch erfreulich wirken. Auf anderen Gebieten wird jedoch ein engerer Anschluß an das Vor- handene wertvoll bleiben, das ist überall dort, wo auch der Charakter der Aufgaben keine wesentliche Änderung erfahren hat. Dies gilt besonders vom Wohnhausbau. Wenn auch hier Bequemlich- keitsforderungen, hygienische und technische Fortschritte neue Einflüsse repräsentieren, so bleibt doch der überwiegende Teil der Aufgabe ein solcher, der eine lokale Färbung, eine nationale Eigenart besitzt und auf langsamer historischer Entwicklung fußt.