110 Wir betreten zuerst das Mutter- land der meisten kunstgewerblichen Techniken, das Land, in dem auch viele der Urformen geschaffen wurden, die jede spätere Künstlergeneration in ihrer Art mit neuem Leben erfüllte - das alte Ägypten. Hier wie bei den wun- dervollen Werken der kretisch-mykeni- schen K-ultur, die sich an sie anreihen, stehen wir vorLeistungen von ursprüng- licher Kraft und Ausdrucksfähigkeit. Über die Unbeholfenheit der Technik hinweg führt eine Gestaltungskraft, die aus jedem Material so sicher die natür- liche Formensprache zu holen vermag, die jedem Zwecke so unmittelbar durch schöne und überzeugende Bildungen zu entsprechen weiß, daß spätere Genera- tionen oft mit den vollkommensten Hilfsmitteln keine wirksameren Werke schaffen konnten. Das Geheimnis der dekorativen Wirkung ist in ihnen voll beherrscht, man fühlt in ihnen den Abglanz einer hochstehenden Kunsttätigkeit, deren Zug zur Monumentalität die kleinsten Werke durchdringt. Die eingehende Darstellung dieser Perioden ist darum von größtem Werte. Jene formale Vollendung, zu welcher die klassische Kunst der griechischen und römischen Blütezeit aus den Überlieferungen dieser Meister gelangte, vermag nicht immer auch dieselbe zwingende und ursprünglich packende Wirkung zu üben. Hingegen ist ihr der Liebreiz und der Formenreichtum eigen, der einer sinnenfreudigen, lebensfrohen und zur höchsten geistigen Reife entwickelten Kultur Ausdruck verleiht. Der Historiker hatte hier eine leichtere, aber vielleicht auch weniger fruchtbringende, weil schon zu oft verrichtete Arbeit vor sich. Es ist insbesondere am Gerät und an den dekorativen Prinzipien des Wandschmuckes zu fühlen, wie dann das Vermächtnis der antiken Welt durch den Glaubensfanatismus des erwachenden Christentums mit fester Hand aufgegriffen wird. Der neue Glaube und mit ihm die neue Welt und Lebensanschauung Finden in den Werken des altchristlichen Kunstgewerbes und der Dekoration die kraftvolle, innige und unmittelbare Ausdrucksweise wieder, welche den ersten schöpferischen Perioden heidnischer Kultur eigen ist. Es herrscht wieder ein strenger, auf die Gesarntwirkung zielender architektonischer Geist der Monumentalität. Die künstlerische Individualität verschwindet wieder Entwurf zu einem Perspektivgitter von F. L. Schmitmer