weiter nach Italien verbreitet. Von Kleinasien bis nach Zentralasien und dem nördlichen Indien dehnt sich ein Gebiet ausgezeichneter Wollerzeugung, sei es nun Schaf-, Ziegen- oder Kamelwolle. Indien und Ägypten sind die alten Länder der Baumwollkultur; Ägypten ist auch durch seine Lein- wand wichtig. Dazu kommt das Gold Indiens und im Mittelalter besonders auch des südlichen Ägypten. An der syrisch-phönikischen Küste wird der Purpur gewonnen, der später wohl an Bedeutung zurücktritt; doch wachsen auf weiten Gebieten die besten Kräuter und sonstigen Pflanzen zur Herstellung der herrlichsten Farben. Aber auch Sitten und wirtschaftliches Leben sind der Entfaltung künst- lerischer Textilindustrie im Orient außerordentlich günstig. Schon die in der orientalischen Auffassung tief begründete weite Fülle der Kleidung ist da von Bedeutung, aber auch das, von den fast überall im Orient einmal zur Herrschaft gelangten Nomaden übernommene, Sitzen auf dem Boden; die Menge der Kissen, Vorhänge und so fort wirkten da fördernd. Denn man muß nicht glauben, daß hierzu immer Teppiche verwendet wurden, auch wirkliche Gewebe dienten hierzu; wir brauchen nur an die noch zu besprechenden sogenannten Skutaridecken (Abb. 9) zu erinnern. Besonders wichtig ist aber, daß der Orientale infolge seiner andern gesellschaftlichen Gliederung und zum Teil auch infolge der anderen Stellung der Frau viel länger bei ruhig sich entwickelnder Handarbeit bleiben konnte und nicht zu hasten brauchte, wie der Europäer mindestens vom späteren Mittelalter an. Es ist begreiflich, daß der Orient auf diese Weise Europa gerade in der Textilkunst lange überlegen war und daß wir bis in die Renaissancezeit hinein in Europa überall eine reichliche Einfuhr orientalischer Stoffe nach- weisen können. Man kann vielleicht sagen: Die Textilkunst Europas nach der griechisch- römischen Antike zerfällt in zwei Perioden: in die Zeit der Vorherrschaft des Orients bis zur Renaissance und in die Periode der eigentlich euro- päischen Textilkunst von dieser Zeit an. Wie wir wiederholt hervorheben mußten, war das Kunstgefühl des europäischen Mittelalters bis zur Gotik dem des Orients nahe verwandt; das heißt, es herrschte auf beiden Seiten ein primitiver, nur allgemein raum- belebender Schmucktrieb, der auch nur mit allgemeinen Eindrücken und Erinnerungen an die Außenwelt arbeitete, ohne sich in die Beobachtung ihrer individuellen Eigenschaften zu vertiefen. Erst die spätere Gotik und die Renaissance leiteten das Auge und damit auch die Phantasie wieder mehr auf die Welt der Erscheinungen, so daß an Stelle allgemeineren Schmuck- triebes eine strenger tektonische Gliederung und naturalistischere Durch- bildung traten. Der Orient hat diese Entwicklung nur in beschränktem Maße mit- gemacht und steht in dieser Hinsicht Europa gegenüber zurück, ebenso