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Man trifft hier außer Segall auch noch andere Reste der Neuen Sezession: Tappen
mit Hetschigen Negerinnen und Kompositionen über ethnographische Motive in wischigen,
brandigen Erdfarben sowie Melzers urzeitliche Kampfszenen, die mit dem verrenkten
Rhythmus der Leiber und den Steillinien prasselnder Lanzen im Holzschnitt wuchtiger
zum Ausdruck kommen als in der Malerei.
Von jüngeren Franzosen, die vor einigen Jahren von der Sezession vorgestellt wurden,
begegnet man Otto Friesz mit seinen tupiig flachen Mosaiklandschaften im Bilderbogenstil
und Picasso, der aber hier gar nicht problematisch auftritt, sondern mit zwei meisterlichen
Zeichnungen von reifster Einfachheit. Sie geben ein Mädchen und eine alte Frau. Gotisch
herb sind sie, an Minne erinnern sie, den belgischen Steinbildner, die Atmosphäre von
Bruges la morte weht um sie.
Und nun das Letzte und Neueste. Es kommt aus Paris, wenn auch die jungen Proble-
matiker nicht alle Franzosen sind. Natürlich Kubistisches, manches pedantisch, aber bei
Marchand zum Beispiel und seinen Dächern und Giebeln, die sich in geometrischen
Figuren überschneiden, merkt man an dieser malerischen Mathematik wesenhafte Aus-
drucksform. Cardosos Landschaften in stumpfen Artischokentönen, seine Pilanzeniiach-
omamente grünstichlig mit spritzigem Rot, auf kreidig körnigem Weiß des Hintergrundes
haben exotischeTeppichwirkung. Georg Cars sieht dasBois de Boulogne wie ein chinesisches
Bild an, die Baumreihen werden zu flach aufgestellten dekorativen Wandschirmen und die
Menschen zu ausgeschnittenen undaufgeklebten Figuren.
Kislings Fischstilleben hat in den grauen feuchten Mauertönen etwas vom Fresko.
Segonzacs Boxer treffen gelungen den Exzentrikstil, der zu dem Vorgang paßt, die Spitz-
bogen-Beinstellung, das Erstarrt-Fratzenhafte der Visagen, die witzigen Verzeichnungen
der verkreuzten Gliedmaßen. Dem verwandt ist Richters Fußballspiel mit den geschickt zur
Erscheinung gebrachten grotesken und von aller menschlichen Normalbewegung so ver-
schiedenen Motiven purzelnder, kollernder, sich bäumender, ausschlagender Leiber im
epileptischen Taumelrhythmus.
Noch ein Junger fiel mir auf, Erich Waske mit seiner„Gesellschaft im Freien": Zwischen
grünem lichtdurchsprühten Blättergewirr Männer und Frauen mit erotomanischen Lemuren-
gesichtern und spinniingerigen Händen. Es ist ein Nachtstücl: von einer modernen
Walpurgisstimmung. Und dabei fällt auf, wie hier bei allen exzessiven Mitteln der Dar-
stellung ein straffes Zusammenhalten der malerischen Kräfte waltet, wie die Komposition
geschlossen ist und innerhalb dieses Rahmens alle Bewegungen sich ausbalancieren.
Solche Sicherheit haben leider die andern locker auseinanderfallenden Versuche Waskes
nicht. Der Kritiker hat es solchen neuen Experimenten gegenüber nicht leicht. Zunächst
besteht für ihn selbstverständlich die Pflicht, sie nicht bequem abzulehnen, sondern sich
mit ihnen auseinanderzusetzen, denn in solchen Ablösungs- und Neubildungsprozessen,
liegt - das weiß jeder, der historischen Sinn besitzt - etwas Gesetzmäßiges. Dann aber
muß er versuchen, sein Erkenntnis- und Unterscheidungsvermögen so zu schärfen, um
herauszuwittern, wer aus Affekt und Temperament, also aus Notwendigkeit, diese Bahnen
geht und wer nur ein Mit- oder Nachläufer der neuen Manier ist. Zweifellos sind ja die
Außerlichkeiten vor allem der primitiven und ethnographischen Art auch von Nichtskönnern
leicht nachzuschreiben, jedenfalls leichter als die präzise Zeichnung älterer Schulen. Der
Kritiker kann hier nur seinem Instinkt folgen, und er muß dabei auch den Mut haben, zu irren.
THEATER GROSS-BERLIN. Typisch für den übeln Berliner Mischlingsstil ist
der Ausbau der einen der „romanischen" Hallen am Zoo zu einem Variete geworden.
Im Vestibül sind die oberen Wände sofiittenartig ineinander gefaltet und in ihre Längs-
falzen elektrisches Licht zu indirekter Beleuchtung eingeschaltet. Es wirkt nicht selbst-
verständlich atmosphärisch, sondern man merkt die mühsame und allzu absichtliche Kon-
struktion. Eine schillernd lackierte metallische Riesensehlange bäumt sich auf, ihre Ringel
bilden ein Becken, in das der gekrönte Kopf das Wasser sprudelt. Dazu in schiefer Paarung