MITTELALTERLICHE GIEBELSCHRÄNKE
AUS DEN OSTERREICHISCHEN ALPEN Sie VON
ALFRED VON WALCHER-MOLTHEIN-WIEN 51b
".9 M frühen Mittelalter war die Truhe der einzige
größere Behälter für jenen Besitz an profanen
Gegenständen, den man im geschlossenen Raum
untergesondertemVerschluß zuhalten wünschte.
' Der Schrank oder Schrein diente damals aus-
, schließlich kirchlichen Zwecken. Sein ältestes
Beispiel ist der bei der Öffnung der Kapelle
SanctaSanctorum in Rom aufgedeckte Reliquien-
Schrank, welchen Leo III. um das Jahr 800 herum
stiftete. Ebenso sind die in den Kirchen Nieder-
deutschlands, besonders häufig in der Harzgegend erhaltenen Schränke
niemals etwas anderes gewesen als kirchliche, bestimmt zur Aufbewahrung
der kostbaren liturgischen Gefäße, der Reliquien, eventuell auch der Meß-
kleidung. Besonders reich an derartigen teils eingemauerten. teils frei-
stehenden Kasten erscheint Halber-
stadt, wo jede Kirche im Besitze
eines solchen noch ist oder kürzlich
war. Die freistehenden Schränke
dieser Gruppe sind auf die einfachste
zimmermannsmäßige Weise aus der-
ben Bohlen hergestellt, welche mittels
eiserner Bänder und schwerer Nägel
zusammengehalten werden. Mit ihrem
Giebel und dem einfachen Satteldach
sind sie in Anlehnung an romanische
Architekturformen entstanden. Ihre
allgemeine Gestalt, etwa die eines
Schilderhauses, begegnet uns auf
mittelalterlichen Miniaturen sowie auf
Holzschnitten des XV. Jahrhunderts
wiederholt bei Darstellung eines in die
Bildfläche reduzierten Wohnhauses
(Fig. 1). Eine Abbildung des eigent-
lichen Giebelschrankes mit Satteldach
ist weder in einer Miniatur noch auf
einem Holzschnitt nachzuweisen; da-
gegen möchte ich erinnern, daß sich
die allgemeine Form bis auf unsere
Tage in den kleinen I-Iolzhäuschen
Fig. I. Der verlorene Sohn heischet sein Erbteil. Holz-
schnitt aus „Spiegel der menschlichen Behaltniß".
Basel, Bernharl Richel 1476