DAS LUSTERWEIBCHEN IM RATHAUS ZU STERZING - AUS DEM BEREICHE JOERG KQLDERERS 50' VON PHILIPP MARIA HALM- MÜNCHEN Sie S ist eine nicht seltene Beobachtung, daß Werke der bildenden Künste, falls sie nicht inschriftlich oder archivalisch als Schöpfungen eines unserer großen Meister verbürgt sind, trotz ihrer besonderen künst- lerischen Vorzüge jahrzehntelang der Forschung entrückt bleiben. Der Beschauer nimmt sie freudig E, . hin als ein Geschenk der Kunstübung vergangener Zeiten, ohne sich lang mit dem „Wie und wann und von wem" zu befassen und vergißt in dem Genusse, daß sie schließlich doch auch Angelpunkte für die Kunst ihrer Entstehungszeit sein können. Wie lange währte es zum Beispiel, bis erst durch die Verdienste Konrad Fischnalers und Franz von Rebers die Bedeutung und der hohe Wert der Gemälde und Skulpturen des ehemaligen Sterzinger I-Iochaltars für die Entwicklungsgeschichte der deutschen Kunst erkannt und dadurch Hans Multscher von Ulm in den Mittelpunkt der schwäbischen Kunst des XV. Jahrhunderts gerückt wurde. Neben den Resten des Hochaltars birgt Sterzing noch ein anderes Kunstwerk, das, oft beschaut und viel bewundert, mehr noch vielleicht als Multschers Altartafeln, in dessen unmittelbarster Nachbarschaft es sich befindet, den Namen des schmucken Städtchens in die Lande trägt. Ich meine das Lusterweibchen im Erkersaal des Rathauses (Abb. r bis 3 und 22). Das „Sterzinger Lusterweibchen" - so spricht von ihm der Volksmund und die zahllose Schar der Kunstpilger Tirols als von etwas Allbekanntem 7 ist einer jener traulichen Beleuchtungskörper, die der Anfang des XVI. Jahr- hunderts bezeichnenderweise „Gehürne" zu benennen pilegte. Die Halbfigur, die zwei mächtigen Steinbockhörnem als Ausgang dient, stellt die edle Römerin Lucretia dar, wie sie, empört durch die ihr angetane Schmach des Sextus Tarquinius, sich mit dem Schwerte den Tod gibt. Sie trägt das modische Gewand der Frührenaissance, ein weit ausgeschnittenes bortiertes Leibchen, aus dem sich die vollen Formen der Brust drängen, mit weiten kurzen Armeln. Das Nacken und Schultern verhüllende Fürtuch oder Hemd, über das sich eine schwere Goldkette mit torsierten Gliedern legt, schraubt sich aus den Ärmeln um die kräftigen Arme und flattert wie im Winde zur Seite. Eine Haube mit einem Zackenrand läßt nur einigen wenigen Haarwellen freie Bahn. In der Linken hält die Römerin einen Lichtträger in Form eines Füllhorns, die ausgestreckte Rechte von außerordentlich feiner anatomischer Beobachtung richtet das Schwert gegen die Brust. Das Haupt weicht in der Vorahnung des Schmerzes und mit dem Ausdruck des wollüstig ersehnten 1a