34V Begriffspaaren die in der neueren Geschichte verwirklichten Ausdrucksmöglichkeiten der bildenden Kunst faßbar auseinandergelegt und damit zugleich Gelegenheit geschaffen, mittels dieser ästhetischen Grundformen auch im Bereich der älteren und der zeitgenös- sischen Kunst Klarheit der Anschauung zu verbreiten. Wie in seinen älteren Werken, „Renaissance und Barock" (x888), „Die klassische Kuns " (1898) und „Die Kunst Albrechts Dürers" (1905), geht Wöltflin auch jetzt mit bestimmten optischen und räumlichen Anschauungskategorien an die historisch konkreten Kunstwerke heran, die er sich aus Zeichnung und Malerei, der Plastik und Architektur des XV. bis XVIILJahrhunderts auswählt. Da es sich für ihn um den Wesensgegensatz - man kann sagen: den Gegensatz künstlerischer Weltanschauung - von Renaissance- und Barockform handelt, so sind, wie in seiner mit dem nämlichen Titel versehenen Jugend- schrift, die Werke des XVI. und XVII. Jahrhunderts, vor allem Italiens, besonders bevor- zugt. Das Quattrocento wird mehr gelegentlich, als Vorbereitung auf die klassische endgültige Formulierung um 1500, herangezogen, und das XVIII. Jahrhundert als Ausklang jener großen barocken Strömung gefallt, die um die Mitte des XVI. Jahrhunderts in Italien geboren, ihr Ende in dem grundsätzlichen Stimmungsumschwung des neuen Klassizismus der Aufklärungszeit fand. Außer diesem zeitlichen Stilgegensatz gelangt der nationale zwischen der formal gerichteten Kunst des romanischen Südens und der stimmungshaften Anschauungs- und Gestaltungsweise des germanischen Nordens zum ästhetischen Aus- druck, wobei wieder jenes tiefe kunstpsychologische Problem berührt wird, das auch den Kern von WölHlins Dürer-Buch gebildet hat. Die fünf Kategorien, die nun diese zeitlichen und nationalen Wesensgegensätze formanalytisch illustrieren, sind: l. das Lineare und das Malerische, z. Fläche und Tiefe, 3. geschlossene Form und offene Form, 4. Vielheit und Einheit und 5. Klarheit und Unklar- heit - und zwar immer so, daß der erste Begriff die klassische Kunst H entweder der Renaissance oder Italiens w charakterisiert, der zweite Begriff die barocke Kunst - ent- weder der Nachrenaissance oder des Nordens. Es versteht sich, daß diese fünf charakte- risierenden Betrachtungsweisen sich vielfach in ihrem inhaltlichen Ergebnis decken, da sie nur dieselbe kunstgeschichtliche Tatsache von einem andern Standpunkt aus beleuchten z": Beispielsweise wird eine Kunst reiner Linearität, die die optische Wirklichkeit sich wesentlich als Zeichnung zurechtlegt - man denke etwa an Dürer oder Raffael -, auch die einzelne und Gesamtform streng geschlossen zu geben suchen, während andererseits eine malerische Kunstanschauung - wie sie etwa Rembrandt oder Tintoretto vertritt - mit der malerisch aufluckernden Anschauungs- und Darstellungsart zugleich jede feste Form vernichtet. Weiterhin bedeutet derselbe Gegensatz der geschlossenen und der offenen Form, aus dem Planimetrischen ins Plastische übertragen, den Gegensatz von Fläche und Tiefe; das heißt, an Stelle des in einer Ebene auf ruhig geschlossener Hintergrundsfolie sich abwickelnden Renaissancebildes - wie es Raffael oder die Florentiner Bildhauer um 1500 geben - tritt die gewaltig bewegte Barockdarstellung, die grundsätzlich die Hintergrunds- ebene mittels perspektivischer Durchbrechung zerstört und auch die Einzelform lediglich nach ihrem plastischen Gehalt, ihrem Tiefenausdruck wertet; hierfür seien als malerischer Vertreter Peter Paul Rubens, als Bildhauer der Römer Lorenzo Bernini genannt. Dal] schließlich die lineare Kunst die Kunst absichtlicher Formklarheit ist, wie die malerische die Kunst absichtlicher Formunklarheit, ein Gegensatz, der sich auch auf die Farben- und Lichtgebung noch ausdehnen läßt: die in einfachster Harmonie zueinanderstehenden Lokaltöne hier, die vielfach gebrochene, in unendlichen Zwischenabstufungen verschwim- mende koloristische „Stimmung" da, hat natürlich denselben kunstbiologischen Ursprung, und ebenso wird das malerische Barock sein Formensystem in ganz anderer Weise zur 4' ln einem sein Buch vorbereitenden Essai „Über den BegriE des Maleriscben" in Band IV, jahrgang 1913, Heft r, Seite 1 E. der kulturphilosophischen Zeitschrift „Logos" hat Wölfflin tatsächlich von dieser einen Kategorie aus den Gesamtbereich der bildenden und tektonischen Künste in kunstgeschichtlicherv Antithese auseinanderzulegen gesucht.