weiss wohl, dass die Kunst von jeher auch zur Tendenz benutzt worden ist und dass die Tendenz an sich ein sonst gutes Kunstwerk noch nicht zu einem schlechten macht. Aber sie weiss auch, dass diejenigen Kunstwerke am reinsten künstlerisch wirken, bei denen von jeder Tendenz abgesehen wird. jedenfalls leugnet sie, dass der Beruf der Kunst in der Tendenz bestehe. Der Inhalt wirkt nach ihr unbewusst, unabhängig von der Absicht des Künstlers, und zwar durch ein Naturgesetz, das Gesetz der Gefühlsergänzung. Bei Tolstoj finden wir eigenthümlicherweise vermöge seiner seltsamen künstlerisch-religiösen Doppelnatur beide Theorien neben- einander. Auf der einen Seite verlangt er, dass die Kunst nur die höchsten und besten Gefühle der Menschheit, das heisst diejenigen darstellen solle, die den Menschen dem religiösen oder socialen Ideal, der allgemeinen Menschenliebe, näher bringen können; auf der anderen Seite sagt er: „Die verschiedenartigsten Gefühle, sehr starke sowie sehr schwache, sehr bedeutende sowie sehr nichtige, sehr gute sowie sehr schlechte können den Gegenstand der Kunst bilden, wenn sie nur auf den Zuhörer, den Leser oder Zuschauer ansteckend wirken. Je stärker die Ansteckung ist, umso wahrer ist die Kunst, ganz unabhängig von dem Wert der Gefühle, die sie uns übermittelt." Die letztere Anschauung stimmt vollkommen mit derjenigen der Illusionsästhetik überein. Und da sie der ersteren geradezu wider- spricht, verwerfen wir diese und halten uns an jene. Wir appelliren von dem schlecht informirten Socialpolitiker Tolstoj an den gut- informirten Dichter. Und wenn wir fragen, wie die Indifferenz des Inhaltes zu begründen ist, so stehen wir eben hier vor dem Problem des Zweckes der Kunst. Die Illusionsästhetik verwirft zwar das I-Iineinziehen des Inhaltes in den eigentlichen Kunstgenuss, aber sie ist nicht so einseitig, die Bedeutung des Inhaltes überhaupt zu leugnen. Sie schiebt ihn nur zurück in die Regionen der höheren Kunstzwecke, die dem Künstler nicht bewusst sind, die vielmehr auf Grund eines biologischen Natur- gesetzes in Wirkung treten. Dieses biologische Naturgesetz aber lautet: Die Kunst dient der Erweiterung und Ergänzung des Gefühlslebens, sie ist entstanden aus dem Bedürfnisse der Gattung nach einer solchen Erweiterung und Ergänzung. Der Mensch als Individuum ist einseitig, er kann von den im Wesen der menschlichen Gattung liegenden Eigenschaften, Trieben, Gefühlen u. s. w. nur verhältnismässig wenige entwickeln. Dies ist die Schuld der eigenthümlichen Ausbildung unseres modernen Culturlebens, der weitgetriebenen Arbeitstheilung, der Verkümmerung des menschlichen Wesens durch körperliche und