50 diskreten Verschleifung tektonischer Linien. So dient. zum Beispiel das reichgedrehte Sitzmotiv der beherrschenden Figur der Providentia am Brunnen am Neuen Markt sehr glücklich dazu, die Windung des Sitzes in seiner tektonischen Aufgabe zu verstärken, „so daß die Schwierigkeit, einem von allen Seiten freien Monument eine allseitige Wirkungsmöglich- keit zu wahren, meisterhaft gelöst ist"." Diese für seine Zeit absolut neuen statuarischen Gedanken finden wir nun in der Passauer Domkanzel erst- malig von dem 28jährigen Meister in einer großen Komposition ver- wirklicht. Die weibliche Figur zur Linken der Kanzelrückwand (Abb. 3 und m) ist weder als Karyatide noch sonstwie technisch an die Kanzelarchitektur gebunden, sie übt zweifellos auch als Einzeliigur, losgelöst vom Gesamtwerk, aus- gezeichnete künstlerische Wir- kung. Und doch ist die Figur nur in ihrem Verhältnis zum Gesamt- werk voll zu werten. Wir haben bereits (Seite 45 f.) das der Figur zugrundeliegende Konstruktions- schema bloßgelegt, welches im wesentlichen aus dem flankieren- den Rechteck und den von oben rechts (vom Beschauer orientiert) nach unten links parallel laufenden Diagonalen gebildet wird (Abb. 3). Jene stärkste Diagonale, welche durch den vom linken Fuß gegen den rechten Oberschenkel laufen- denFaltenzug, durch Oberschenkel, Kelch und ausbauchendes Gefäß in ihrer Richtung bestimmt wird, greift bis zum Schalldeckelrand aus und leitet so gleichsam alle von der Kanzel- und Stiegenbrüstung herlaufenden Linien in das Liniensystem der Aufsatzgruppe über (Abb. 10). Die oben besprochenen Gegendiagonalen halten die Figur im Gleichgewicht und geben ihr statuarische Festigkeit. Das am äußersten Kanzelrand sitzende Englein fungiert bei der Überleitung der Linien als Umschalter des Richtungsverlaufes der Umrißlinien, indem es mit der Richtung seines flammenden Schwertes die aufsteigende Linie aufnimmt und mit der durch Fuß- und Arrnhaltung fixierten stärkeren Gegendiagonale die Linie in das Dreieck der Aufsatzgruppe überleitet (Abb. 10 a und b). " Vgl. H. Tietze, „Wien", Berühmte Kunststätten, Band 67, Seite x94. Abb. g. Passau, Domkanzel, Crucii-ixus des Brüstungs- engelchens