523 Die Leistungsfähigkeit der Deutschen steht auf der Basis der eigenen Begabung und der Aufnahme fremder, werthvoller Fortschritte unserer Zeit. Aller Finanz- und ähnlicher Nöthen ungeachtet im Wachsen, sind die Städte namentlich gediehen; Wien ist im Begriffe eine Welt- stadt zu werden. S0 viele Schläge das Gesammtwohl des Staates in letzter Zeit erlitten hat, dennoch steht Wien in voller Blüthe und darf auf die Vollendung der Donauregulirung und die Eröffnung der Welt- ausstellung als auf die wichtigsten fördernden Factoren ihrer kündigen, Entwickelung hofen. Seine neuen Theile haben etwas speciiisch Wiene- risches in der künstlerischen Art und Weise der Anlage, doch begegnet man hie und da einem eigenthümlichen Einiiusse Berlinerischer, Münch- nerischer und französischer Elemente; diese Einflüsse weichen jedoch dem einheimischen Kunstgenius. Und dieser warf sich vollständig der Renaissance in die Arme, einer Renaissance, die eigenartig, sich wesent- lich von der neugriebhischen Renaissance des SchinkeYschen Berlin und von jener in Paris unterscheidet, die, auf nationalem Boden stehend, die Traditionen Franz l. wieder aufgenommen hat. Die Wiener Renaissance hat den Vorzug einer poetisch-reizenden, oft selbst mit mittelalterlichen Elementen gemischten, spielenden Formenwelt vor Berlins stylgerechten, otl aber nüchternen Bauten voraus, und ihre Kunstindustrie zieht aus dieser Ueppigkeit eben so viel Nutzen, als das Trockene, Berechnete in den Werken der Epigonen Sehinkels auf das Gedeihen des Kunstgewerbes in Berlin drückend wirkt. Allerdings droht in jüngsten Tagen der frischen, echt künstlerisch begonnenen Wiener Bauthlttigkeit durch das fabrikmttssige Vorgehen der Baugesellschaiten, die den Künstler zur Maschine machen, eine ernste Gefahr. Bei so viel Vorzügen lassen sich doch auch die Schattenseiten un- seres Kunsttreibens nicht übersehen. Das grösste Hemmniss einer edlen Entfaltung desselben liegt in der Art, wie ein Theil der Gesellschaft als Besteller und Känfer_ den Künstlern und Kunsthandwerl-rern gegenüber sich erweist. Der unverständige Luxus dieser Gesellschaß, welche Stolz in ihre Bedürfnisse der Uebertreibung, des Aussergewöhnlichen und Auf- fallenden setzt, nicht das blos vernünftige und gebildetem Verlangen ent- sprechende, sondern das Extreme mit Begier anfsucht, ihre Liebe zu aus- schweifenden Formen in allen Künsten und ihre Bewunderung alles Aus- ländischen, - das sind die Hauptlibel, welche der Kunst in Oesterreich drohen. Die Kunst des leeren Scheines geht aus solchen Verhältnissen hervor und die echte verkümmert aus Mangel der Beförderung. Doch dürfen wir nicht verschweigen, dass bei einem andern, grossen Theile unserer Adels- und Geldaristokratie eine lobenswerthe patriotische Tendenz immer mehr an den Tag getreten ist. Ein anderer Mangel, dessen Folgen schon jetzt in den entstandenen Ü"?