.585 hat, derselbe Winckelmann ist es zugleich gewesen, der damit die lebende Kunst selbst in jenen dürren, unfruchtbaren Kreis hineingeführt hat, aus dem sie bis jetzt im großen Ganzen noch immer nicht herauszufinden vermochte. Untersuchen wir, wie sich der bezügliche Process abgespielt hat, ja wie er sich naturnothwendig vollziehen musste. Von dem Augenblicke an, da die Kunst sich die altgriechische Antike zum Vorbild erkor, halte sie sich auf Gnade und Ungnade der Kunstgeschichte ausgeliefert. Wer kannte denn überhaupt die altgriechische Kunst? Der großen Masse des Volkes waren ihre Denkmäler fremd: nicht blos die Tempel im fernen Griechenland, sondern auch die Sculpturen in den heimischen fürstlichen Privatsammlungen. Gekannt waren sie nur von den Gelehrten, die sich, wie Winckelmann, ihrem Studium speciell widmeten. Der Künstler war daher gezwungen, sich an den Kunstgelehrten, den Kunsthistoriker zu wenden, wenn er über ein altgriechisches Werk näheren Aufschluss er- halten wollte. Der Künstler Ider italienischen Renaissance des 15. Jahr- hunderts durfte ein antikes Denkmal der Römerzeit, wie er dergleichen für sein Schaffen verwerthete, mit völlig unbefangenen, naiven Augen betrachten, als wäre es ein Kunstwerk seiner eigenen Zeit. Der Künstler vom Ende des iSJahrhunderts stand den altgriechischen Kunstwerken fremd und scheu gegenüber; er empfand Ehrfurcht vor ihnen und suchte sich mit dem hohen Geiste ihrer einfach-edlen Formen zu erfüllen, aber er empfand". es waren Werke, die unter ganz anderen Bedingungen geschaEen wurden, als diejenigen waren, unter denen er selber schuf. Er merkte, dass er mit der rein künstlerischen Betrachtung nicht ausreichte, um die tiefere Bedeutung des Kunstwerks zu erfassen: was blieb ihm übrig, als zum Kunstgelehrten, zum Archäologen zu gehen, der den Homer, den Ptolemäus, den Seneca kannte, und der daher allein im Stande war, den gewünschten Aufschluss zu geben? Umgekehrt hat aber die Kunstgeschichte diesen in der Natur der Sache begründeten Vortheil auch sofort und Weidlich für sich ausgenützt. Schon Winckelmann hat sich wiederholt herausgenommen, den Künstlern Vorschriften zu geben. Und welcher Art diese Vorschriften waren, lässt sich denken: war die altgriechische Antike einmal zum würdigen Vorbild erkiest, dann hatten die Künstler nichts Besseres zu thun, als diese Art der Antike auf das peinlich Genaueste nachzubilden. Wo sie sich eine Freiheit gestatteten, da erfuhren sie vom Archäologen, der ja die Vor- bilder besser kannte, sofort eine Zurechtweisung. Nun sah man Kunst- werke entstehen, die in der ganzen italienischen Renaissance undenkbar gewesen wären. Es wurde schon vorhin als im höchsten Grade bezeichnend für die Selbständigkeit betont, mit welcher die italienische Renaissance den antiken Vorbildern gegenüber verfahren ist, dass sie niemals, auch nicht ein einziges Mal, einen antiken Tempel genau copirt hat. Nun aber, in der modernen Zeit, ist dies wiederholt geschehen.