131 Erkenntniss und Wissen jedoch bedürfen, um in einem Volke er- halten zu bleiben, der unausgesetzten Pflege. Nur die strenge Erhaltung des Errungenen gestattet ein Vorwärtsschreiten. Albrecht Dürer, der immer und immer wieder auf die Natur, als den Urquell alles dessen, was dem Künstler noth thut, hinweist, bricht wiederholt in die Klage aus um den Verlust der Bücher der Alten, um die verloren gegangenen Früchte der Wissenschaft, deren der Künstler bedürfe, und ihm ist die Mühe des Erringens, die Generationen auf sich nehmen müssen, gar wohl bekannt: uDenn gar leichtiglich verlieren sich die Künste, aber schwerlich und durch lange Zeit werden sie wieder erfundenm Und Verluste dieser Art waren zu beklagen, als mit dem allmäligen Ermatten - wir können nicht sagen Erlöschen - der Lebensäußernngen antiker Wissenschaft den Kunstübungen der feste Boden entzogen wurde. Das, was in den nachclassischen Jahrhunderten dem Künstler, dem Zeichner zumal, als führendes Moment noch ungeschmälert zu Gebote stand, war die in keiner Periode primitiver Kunst fehlende Richtschnur, welche nur aus dem physiologisch zu begründenden Triebe zum stil- gemäßen Schaden hervorgeht, - einem Triebe, welchen ich den künst- lerischen Ordnungstrieb nennen möchte. Und der unermessliche Schatz der durch die Natur gebotenen Vorbilder? Gewiss! Dieser stand nach wie vor otfen vor Augen, aber der Schlüssel zur Entzifferung dieses gewaltigen Textes war abhanden ge- kommen. So kam es, dass in noch früher christlicher Periode auf classi- schem Boden die alte Kunst ihr Ende finden konnte, nachdem die statt- gehabten Wandlungen in der Volksseele jene Umstände geschalfen hatten, welche dem Aufgeben der Traditionen Vorschub leisteten. So kam es, dass im Norden Europa's im Anschlusse an die Verpüanzung des Christen- thums eine Kunstausdrucksweise entstehen konnte, bedeutend und groß in ihren Absichten, in jugendlich heldenmäßiger Kraft emporstrebend, und dennoch von fast kindlicher Naivetät; mit dem bescheidensten Stoff sich behelfend, nichts anstrebend als die Schöpfung einer ihre geheiligten Objecte "schmückenden Formenwelt, deren Charakter vielleicht als eine sichtbare Euphonie zu bezeichnen wäre. Die frühchristlich-irische und die scandinavische Kunst steht in gleicher Weise wie jede andere, noch in der Wiege befindliche dort, 'wo die kritische Beobachtung noch nicht möglich ist; wo die vagen Schemen der Erinnerungsbilder sich nur unvollkommen auf der Zeichen- Bäche zu sichtbaren Formen verdichten; wo auch noch die Einzelnheiten, so weit sie der Beobachtung schon erschlossen sind und zur Wiedergabe aus dem Gedächtnisse gelangen, nur in umgewandelter Gestalt erscheinen, 1h einer Umbildung, welche von den allgemeinen Ordnungsgesetzen ab- hängig ist, sowie von der BeeinHussung der Gestaltungsfähigkeit durch