2,25 , dass seit dem 9. und 10. Jahrhundert der Gebrauch des Bergens der Ueberreste der Märtyrer und Heiligen in beweglichen Kästen der allge- meinere wurde. Umsomehr interessirt das Reliquiar von Oberzell, als es seiner ganzen stilistischen Haltung nach in eine sehr frühe Zeit - Marmor, pag. 31, setzt es in das 4. oder 5. Jahrhundert - gehört, in welcher die Reliquiare noch selten vorkommen. Kraus (Die Kunstdenk- mäler des Großherzogthums Baden, pag. 373) spricht von einer Anleh- nung an die römisch-christlichen Typen des 4. und 5. Jahrhunderts, welche auch die Wandgemälde in Oberzell zeigen. Indem er dies nkunst- geschichtlich wichtigste Kleinod der Inseln als ein Erzeugniss der karo- lingisch-ottonischen Kunst ansieht, vergleicht er es mit einem Werke ähnlicher Art, mit dern merkwürdigen Altare des Stiftes Melk aus dem 10. bis 11. Jahrhundert. Karl Lind berichtet über die Tragaltäre des Stiftes Melk im Jahrg. 1870 (XV.) der i-Mittheil. der Centralcommissionw. Beide Altäre zeigen an den vier Umfassungsseiten Einlagen von figür- lichen Elfenbeinschnitzereien. Den ersten, jüngeren Tragaltar setzt Lind in den Anfang des 12. Jahrhunderts, den zweiten, älteren in den Anfang des 11. Jahrhunderts. Für letzteres Datum bietet eine Inschrift die Grund- lage, nach welcher der Tragaltar wahrscheinlich ein Geschenk der Mark- grälin Schwanhilde, der Gemahlinf Ernst des Tapferen (1o56- 1075) aus dem Hause Babenberg, an das in der markgräflichen Residenz er- richtete Stift weltlicher Chorherren war. Lind charakterisirt nun die Elfenbeinschnitzereien folgendermaßen: nWenn wir die Art der Sculptur noch in's Auge fassen, so müssen wir wohl zugestehen, dass in der Com- position ein klar hervortretender kindlicher Sinn, Gefühl und das Be- streben liegt, etwas Gutes zu leisten; doch die Ausführung hielt damit nicht Schritt, dieselbe ist roh, die Gesichtsausdrücke bedeutungslos, der Faltenwurf der engen Kleider hart und vieles in der Darstellung typisch, aber schon abgeschwächt-i Mit anderen Worten: diese Sculpturen zeigen bereits den entschiedenen Niedergang. Man betrachte dagegen das Re- liquiar aus Oberzell. Sowohl die Langseiten wie die Kurz- und Dachseiten sind durch Bogenstellungen gegliedert, deren Oeffnungen die in Silber getriebenen Büsten von Heiligen mit der Scheibenglorie, das sogenannte opus propulsatum oder malleaturn ausfüllen. Eine Anzahl dieser Büsten fehlen. Eine Charakterisirung der einzelnen Büsten durch Attribute hat nicht stattgefunden. Dieselben zeigen aber einen so merkwürdigen Indi- vidualismus in der Erscheinung bei einer so strengen Formgebung, dass ich sie unwillkürlich im Gedächtniss mit den berühmten gemalten Porträts der Grafschen Funde aus den Felsengräbern von Rubaijät in der Oase el Faijüm in Oberägypten in ideelle Verbindung brachte. Die Büsten zeigen einen gewissen Charakter in porträtartiger Charakterisirung, der sie in scharfen Gegensatz zu den Melker Elfenbeinschnitzereien bringt, und ihre Entstehung wesentlich früher anzusetzen zwingt. Jedenfalls gehe ich, was die Datirung anbelangt, mit Kraus bis in's 10. oder 9. Jahr-