Die Textilindustrie im nordöstlichen Böhmen, betrachtet von der Seite der kunstgewerblichen Production. Bericht über eine Studienreise im Juli 1886, erstattet von Dr. Alois Riegl. Die Textilindustrie Nordböhmens hat eine mehrhundertiährige Tra- dition. ln dem einen Zweige - der Tuchfabrication - hat sie bis zum heutigen Tage einen ununterbrochenen Aufschwung, eine stetige Steigerung nach Umfang und Leistungsfähigkeit zu verzeichnen. Von dem zweiten Zweige - der Leinenweberei -- ist allerdings nicht dasselbe zu sagen; doch lag allezeit der Schwerpunkt in der Wullindustrie. Keines der verflossenen Jahrhunderte hat so viele Bedingungen einer radicalen Umgestaltung nach der technischen und nach der künstlerischen Seite in sich vereinigt, als das moderne Zeitalter des Maschinenwesens und der kunstgewerblichen Reform. Diese beiden letzteren Factoren erscheinen heute in ihrer Entwickelung und Ausbildung soweit vor- geschritten, dass es wohl nicht mehr verfrüht sein dürfte, sich im All- gemeinen die Frage vorzulegen, wie weit die Textilindustrie im Reichen- berger Handelskammerbezirke davon ergriffen und umgestaltet worden ist. I_m Nachstehenden soll nur die kunstgewerbliche Seite der Frage Erörterung finden; doch wird es bei dem engen Zusammenhange beider Factoren nicht zu umgehen sein, auch technische Momente in die Dis- cussion einzubeziehen. Vor Allem muss vorangeschickt werden, dass in der Verwendung der Rohstoffe eine theilweise Verschiebung sich vollzogen hat. Die Stagnation der Leinenindustrie datirt bereits vom Ende des vorigen Jahr- hunderts; in der ersten Hälfte des gegenwärtigen nahm die rückläufige Bewegung stetig zu. Nur während des nordamerikanischen Bürgerkrieges trat in ursächlichem Zusammenhange mit der Baumwollkrise ein vorüber- gehender glänzender Aufschwung ein; gegenwärtig ist die Industrie im Erlöschen begriffen. An ihre Stelle ist die Baumwollindustrie getreten, die augenblicklich neben der Tuchfabrication im Reichenberger Handels- kammerbezirke die vornehmste Stellung einnimmt. Dagegen hat die Seiden- weberei daselbst nie eine bedeutende Rolle gespielt. Die Besprechung kunstgewerblicher Fragen auf dem Gebiete der Textilindustrie ist heutzutage mit einer Schwierigkeit der methodischen Behandlung verbunden, die darin besteht, dass man mit der naturgemäßen Gruppirung der Fragen um die einzelnen Rohstoffe nicht mehr das Aus- langen findet. Jeder der vier vornehmsten Textilrohstoffe hat seine stilistischen Eigenthümlichkeiten, die zu den Zeiten naiven Kunstschaffens ihre unbewusste aber sichere Berücksichtigung fanden und auch in ihrer Geschichte deutlich zu Tage treten. Diese stilistischen Eigenthiimlich- keiten verlieren aber ihre feste unantastbare Geltung, sobald ihr Substrat