' standen haben mögen. Die Byzantinische Ornamentik bringt eine Ver- mengung der Antike mit den morgenländischen Elementen: die romanische Kunst wiederholt eigentlich nur dasselbe. Aber da erscheint der Spiizbcgen; er herrscht von jetzt an in der Baukunst von drei Jahrhunderten, und aus seinem schlanken Stamm erblüht eine wunder- bare Formenwelt. Gleichzeitig bahnt sich die Ornamentik ihren Weg in die Handschriften, in die Hora- und Mess- bücher; die Blumen und Blätter, die 'lhiere hoch und nieder, geometrische wie menschliche Figuren bilden sich unter dem Pinsel des Illuminaters fort bis in's Unend- liche. Die Blumen zumal sind für ihn ein glanzreiches, unerschöpfliches Thema: bald fassen sie die Blätter der Handschriften mit einer bescheidenen Randverziernng ein; bald ranken sie daran hinauf als ein Blumengewinde, das sich zum Festschmuck um die Säulen und Pfeiler einer Kirche schmiegt. Hier reihen sich die Zeilen des heiligen Buches unter einem Triumphbogen von Rosen aneinander, dort lässt ein Kirschenzweig seine scharlach- glühenden Beeren darüber fallen. Die bescheidensten Pflanzen finden in diesen frommer Andacht geweihten Büchern ihren Platz, wie in der lebendigen Schöpfung, dicht neben den schönsten und reichsten. Nach Perga- mentblättern, welche mit Lilien prächtiger geschmückt sind, als (Salomon in aller seiner Herrlichkeit), kommen andere, von den Zackenformen der Distel eingerahmt. Der bescheidene von den Psalmen besuugene Ysop sprosst am Schluss einer Strophe; die Granaten, welchen Salomo die Lippen seiner Sulamith vergleicht, schütten ihren Schatz aus über einem Evangelium; das Korn wächst empor, wo im Texte die Bitte an den Vater gerichtet wird, den Menschen ihr tägliches Brod zu geben. Myo- sotis und Maasslieben umdufton den -englischen Gruss und die Litaneien. Jede Bitte zu Gott bringt Ihm einen Korb mit Früchten dar, oder eine Blumengabe: länd- liche Opfer wie sie schon auf den urältesten Altären ge- Vogel und Falter iiiegen und flattern in diesen Zaubergärten. Der Pfau breitet sein schillerndes Rad aus unter der Mondsichel, auf welcher die heilige Jungfrau steht; die Biene saugt an der Blume einer Initiale, die Fliege lässt sich nieder auf einem Vers, dessen Zeilen durch ihre Flügel schimmern; die Heuschrecke erklettert eine Lilie, 'oder nagt an einer Kornähre; der Schmetterling gaukelt um die Rose; sogar die Wespe lässt ihr Gesumme hören, das klingt wie ferne Gesänge des l-Iochamtes Es ist als wären dem Pinsel des Illuminators jene Ambra-Tropfen entüossen, welche die beschwingten Geschöpfe, im Fluge sie treffend, festhalten und ihrem luftigen Dasein ewige Dauer geben. Das war das goldene Alteryder Ornamentik in den neueren Zeiten, das war ihre reinste Entfaltung. Die Renaissance veredelt und erweitert in ihrer Weise dieses fruchtbare Gebiet. Aber sie beschneidet auch den wuchernden Ueberiluss; mit kunstgelehrter Hand pfropft sie darauf die Typen der Antike, eriindet aber auch neue Typen von wunderbarer Schönheit. Die Gestalten der alten Götterwelt drängen sich herein in die Windungen des Laubwerks, in die Zierrathen der Pilanzenformen, Basreliefs umrahmen die Fläche der Cartouchen, Büsten überragen sie. Es ist der Styl des Alterthums, aber in verjüngtem von heiterer Anmuth umlachtem Leben. Im siebzehnten Jahrhundert erlahmt das Ornament unter dem Schnörkelschwall übermässigen Prunkes; die Um- risse werden anfgetrieben; die Linien gewaltsam; allerlei Unkraut von Zierrath üherlädt es von allen Seiten. Die grosse Staatsperrücke des Louis XIV. scheint in leibhaftiger Gestalt an den Giebeln der Bauwerke herniederzuwallen. Die Ornamentiker des 18. Jahrhunderts treiben die Verschwendung im Ornamentensclimuck noch weiter; die Muschel überwächst und überwuchert Alles und Jedes. 1 Zugleich aber wissen sie doch eine gewisse leichte, heitere i poetischer Zauber innewohnt. Grazie, einen Hauch von ganz eigenthiunlicher, launischer und doch durchdachter Formenspielerei in ihre Schöpfungen zu legen, besonders ein Zusammenstimmen der Wohn- räume mit deren ganzer innern Ausstattung hervorzu- bringen, so dass ihrer dekorativen Kunst ein feenhafter Der Rococostyl wird jeder- zeit eine der originellsten und reizendsten Formen des französischen (Espritv bleiben. - ' Diese Geschichte des Ornaments, dessen Ent- wicklung hier nur im Fluge bezeichnet ist, erläutert Herr Itacinet in einer ebenso gründlich-gelehrten als ausführ- lichen Einleitung zu seinem Werk. Dessen 100 Tafeln mit ihren 2000 Motiven entrollen aber sofort die Ge- schichte des Ornaments im Bilde vor dem glanzbetrodenen Auge des Lesers, und auch die nothwendig schmucklose, sachgomässe Beschreibung (welche der Text zu jedem Blatt ohne Ausnahme gibt) ist nicht im Stande, den ersten Gesammteindruck abzuschwächen. Beim Anblick eines ganzen Waldes denkt man ja nicht an das einzelne Blatt, ja kaum an den einzelnenBanm! Und was fur ein Zauberwald ist hier, voll Wunder und Räthsel, ein überwältigender, scheinbarer, aber auch nur schein- barer, Wirrwarr von Ornamenten, welche den reinsten Typen, 'dcn vollkommensten Meisterwerken aller Zeiträume i entlehnt sind. Von einer griechischen Mosaik führt uns das Werk zu einer Porzellan-Vase ansJapan, von einer persischen Tapete zu einer italienischen Majolika, von einer gothischen Handschrift zu einem Fächer aus der Rococo-Zeit. Arabesken von Raphael stehen neben den Malereien einer egyptischen Todtenstadt; ein von Boucher's Guir- landen eingefasster Fensterpfeiler folgt auf eine Zimmer- decke aus der Renaissance; das Fenster einer Kathedrale fügt sich ein unter der Kuppel einer Moschee. Und diese unzähligen Motive, zusammengestellt mit einem sinnig wählenden Geschmack, geben uns nicht blos die Zeich- nung der Muster, sondern auch ihr Kolorit und ihre Tinten, ihre stärksten Töne und ihre feinsten Uebergänge, ja sogar das Gold und Silber, das mit hereinspieltl Niemals ist mit Hilfe der Lithochromie so Erstaunliches, die erste Anschauung so sehr Ueberraschendes, die genaueste Prüfung so ganz Befriedlgendes geleistet worden. Unterzeiehneter bestellt hiemit bei der Buchhandlung von Exempl. M. A. R A C IN E T, Das Polychrome Ornament. Deutsche Ausgabe von R. REINH A RD T und A. MECKLENEURG. Lieferung l. und folgende. Ort und Datum: Firma: 1mm: von EMIL. MÜLLER m szungu-z.