Das Mittelalter befand sich also noch im Vollbesitze jener Gesetze der Polychromie, welche wir schon an den ältesten uns bekannten asiatischen und ägyptischen Bauwerken, befolgt sehen und welche ihrem Wesen nach auch im Laufe der Jahrtausende ihres Be- stehens nur wenig modificirt wurden. Erst die Renaissance fasste, da man beim Studium der antiken Baufragmente die Farben nicht mehr vorfand, die Architektur und unter Umständen auch die Decoration monnchrom auf, obwohl andererseits die zu nie dagewesener Höhe sich entwickelnde Ma- lerei zur farbigen Ausschmückung der Innenräume hinzuleiten schien. Allein die alte Tra- dition war einmal unterbrochen, und die bald einer rasch wechselnden Mode verfallende Decorationsweise, insbesondere aber die Ausartungen des Barocco beweisen, wie die festen Principien, welche die Kunst in früherer Zeit beherrschten. nach und nach sich verloren. Erst in neuester Zeit gelangt man durch gründliches Studium der alten Kunstdeukmäler wieder zum Verstandniss der Polychromie; insbesondere hat die Aufdeckung von Pompeji diese Erkenntniss gefördert. und es ist zu helfen, dass der neu erwachte Sinn für farbigen Schmuck bald eine durchgreifendekeform in unserem Decorationswesen hervorrufen werden: Vorlesungen im Museum. Am 20. und 17. Janner hielt Custos Dr. llg zwei Vorträge über Terminologie und Stil der Spitzen, erlautert durch zahlreiche Musterbucher und Proben von Meister- leistungen auf diesem Gebiete. In der Einleitung bezeichnete der Vortragende die Tracht als das einzige Gebiet, welches sich in der fröhlichen Renaissance der allbewaltigenden Antike gegenüber aus den mittelalterlichen Formen frei entwickelte. In Venedig, welches damals, wie heute Paris, in allen Modesachen den Ton angab, stand die XViege der Spitze; die Her- stellung der zackenförmigen Merli, der Netzspitze mit mannigfach combinirter geometrischer Zeichnung, tveiters der geschnittenen und der wunderbaren Reliefspitze mit reizender freier Renaissanceornamentik (punti a fogliami, a spina, dei vermicelli, point de rose) war da- selbst eine Lieblingsbeschäftigung der edelsten Damen und im Profangebrauchc wie im Dienste der Kirche begleitete dieser Schmuck das ganze Lehen der damaligen Menschen. Die Genueser Klüppelspitzen gelangten mit ihrem zahnradartigen Abstehen der Verzierungen tdaherDentelli, Dentellarheißfaits aufuseau) und den fransenartigen Macrame erst im tyJnhrl-t. zu grössterßedetitung auf dem Marltte von Frankreich und England. Andere italienische Städte, wie Padua, Siena, Bologna, Florenz, Rom und unser Ragusa, sind durch tretfliche Muster- bücher oder durch alteArbeiten als Pliegestatten dieser edlen Frauenarbeit documentirt. Nach Spanien ist die Spitzenindustrie von Italien und den Niederlanden aus gebracht worden. doch erfreuten sich die points düispagne, eigentlich mehr eine Art von Stickerei, bald ausgebreiteter Beliebtheit. und noch unter Maria Theresia durften der Rector Magnificus und die Decane der Wiener Universität zu ihrem Prunkgetvande blos diese Gattung ver- wenden. In Deutschland ist das Spitzenwesen trotz der ausserordentlich günstigen Vora hedingungen nie zu besonderer Herrlichkeit gediehen. Bei der wachsenden Vorliebe für ausländische Tracht wurden auch die Spitzen ein bedeutender Einfuhrartikel und selbst die Einwanderung kunstfertiger französischer Protestanten wurde nicht gehörig ausgenützt. Der Name der deutschen Spitzen wurde in das Ausland am meisten noch durch die Kloppelci des sächsischen Erzgebirges getragen, welche von der hochverstandigen edlen Nürnberger-in Barbara Uttmann um die Mitte des t6. Jahrhunderts zu Annaberg durch herbeigerufene Arbeiterinnen aus den Niederlanden begründet wurde. Bereits ein Jahrhundert später genossen 30.000 Menschen die Früchte dieses wohlthatigen Unternehmens und die Nachahmungen der Brosseler Spitzen im sächsischen und böhmischen Erzgebirge waren "im 18. Jahrhunderte in Frankreich ein gesuchter Artikel. Sonst hat sich in Oesterreich mit Ausnahme von Laibach und ldria wohl an manchen Orten eine Hausindustrie mit in- teressanten Leistungen, aber ungeachtet vielfacher Förderung durch die Regierung keine heimische Specialitat in der Spitzenfabrication entwickelt. - In dern zweiten Vortrage stellte Dr. Ilg die Niederlande mit ihrer Spitzenkunst als die Antipnden Italiens hin, so- wohl in der Technik, welche vorwiegend Klöppelei ist, als in dem allgemeinen Kunst- charaitter, der mehr den Reiz einer geistvollen Radirung, eines hingeworfenen naturalistischen lmpromptu hat gegenüber der klaren Bestimmtheit in dem constructiven Zeichnungsgerippe der italienischen Merli. Trotz der Blüthe der heimischen Industrie unter dem Einflusse eines regen Verkehres mit Italien zur Zeit Carls des Kühnen von Burgund datirt doch für alle im Spitzenfaclte zur Bedeutung gelangten Städte die Epoche ihres Ruhmes erst seit jenen Tagen, als Belgien unter dem milden Regimente österreichischer Erzherzoge die Wunden der vorausgegangenen Religions- und Freiheitskriege vernarben fühlte. Die ersten Producte waren Nachahmungen italienischer Nadelspitzen, aber mit der Wiederkehr des Friedens ändert sich der Geschmack und beginnt die selbständige Entwicklung. Dabei sondert sich, wie in der grossen Kunst, auch auf diesem Gebiete bald Stadt von Stadt, Landschaft von Landschaft, und gestalten sich schulenartige Gruppen, deren Locale in den