l26_ Da erhält der Einzelmensch, das lndividuum eine Existenzberechtigung und der Bürgerstand, in allen Gewerben tüchtig und durch seinen Fleiß wohlhabend geworden; beginnt dem Adel und Clerus ihre bevorzugten Stellungen streitig zu machen. Bei ihm, dem Bürgerstande, findet auch die Dichtung eine Heimstätte nach der Erniedrigung und Vernachlässi- gung, in welche sie nach den schönen Tagen des Minnecultes bei Höfen und Adel gesunken war. Man mag die Dichtung der Meistersänger als Kunstwerk hoch oder gering anschlagen, sie ist immerhin ein Zeugniss für den Gemeinsinn und die geistige Gesundheit des Bürgerthurns in den Reichstädten. Allmälig bricht sich die Erkenntniss Bahn, dass der Bauer, welcher mit seinem Ptluge in der Erde wühlt, doch auch ein Mensch sein dürfte; der religiöse Sinn bäumt sich aus wahrer Frömmigkeit gegen ein entehrendes, Gewissen und Forschung knechtendes Joch auf. Neue Welttheile werden auf der Erde, neue Weltkörper im Aether entdeckt und bisher ungeahnte Einblicke eröffnen sich in das Wesen der Natur und deren wunderbare Ordnung bei scheinbarer Gesetzlosigkeit und Zufalls- herrschaft. Deutschland nimmt bei diesem Eroberungszuge nach allen Gebieten des Lebens einen Ehrenposten in der Heerschaar der Geister ein, und die Einführung oder Verbesserung von Cotnpass, Oelmalerei, Kupferstich, Demantschliff, Orgel, Feuergewehren, Taschenuhren, Mühl- werken und vielen anderen mechanischen Instrumenten, das ist eine statt- liche Ehrenkette, mit der sich die deutsche Nation stolz schmücken darf. Aber das kostbarste Juwel an diesem Geschmeide ist die Erfindung der Buchdruckerkunst; sie bot der Menschheit eine neue, unwiderstehliche Waffe gegen Aberglauben und Ungerechtigkeit; mit ihrer Einführung ist das Mittelalter als abgeschlossen zu betrachten und eine neue Aera der Menschengeschichte beginnt. Nach alledem muss jene Stelle in Dr. Linde's epochemachendern und, wenn nicht ganz neue Documente aufgefunden werden, die Erfin- dungsgeschichte der Buchdruckerkunst wohl abschließendem Werke: "Gu- tenberg hat die Buchdruckerkunst gar nicht erfundene, jeden- falls einigermaßen überraschend wirken. Und dennoch hat Linde nicht ganz Unrecht. Man muss sich nur nicht darauf steifen, unter Buch eine Reihe von zusammengehefteten Blättern Papier oder Pergament zu ver- stehen, von denen man aus schwarz auf weiß gedruckten Zeilen etwas mehr oder minder Gescheidtes ablesen kann. Gedruckt wurde, und Bücher, ja gedruckte Bücher, gab es lange vor Gutenberg. ln den Trümmern von Niniveh (Kujundschik) fand man {als Ueber- reste der königl. assyrischen Bibliothek gegen 10.000 Thontafeln auf- geschichtet, welche alle Zweige der alten Literatur vertreten. Mr. Men ant hat ein nettes Büchlein über diese Hofbibliothek von Niniveh publicirt, wonach die Tafeln gemäß ihrem Inhalte in verschiedene Gruppen geordnet waren, Der Inhalt einer Tafel setzte sich auf der nächsten fort; sie waren von r bis oft über roo numerirt, diese Serien wurden nach ihrem An-