ALTWIENER BÜRGERMÜBEL WILHELM 4RAZEK Die letzten Jahrzehnte haben auf dem Gebiete der Wohnkultur das Verständnis und die Vorliebe für die Altwiener Bürgermöbel des 18. und frühen 1'). Jahrhunderts geweckt. Besitzt doch ge- rade das bürgerliche Mobiliar der thcresianischen und josephi- nisehen Epoche und der Biedermeierzeit jene Qualitäten, die es in hohem Grade für die modernen Wohn- und Rnumverhält- nisse geeignet machen. Der soziale Umschichtungsprozeß zugunsten des Bürgertumes während der Regierungszeit der Kaiserin Maria Thcresia brachte auch einen weitgehenden Wandel der Wohnkultur mit sich. Zeigen die für den barocken Repräsentationsraum bestimmten Möbeltypen vorwiegend französischen Einfluß, so war der Tisch- ler dort, wo er für den Bürger arbeiten konnte, frei von jeder sklavischen Imitation. So entstanden jene selbständigen Schöp- fungen, deren Aufgabe es war, den Bedürfnissen einer bürger- lichen Häuslichkeit in zweckmäßiger Weise zu dienen. Tubarnakelsehrank. um 1740, Uxlnrralchlschnx Museum für angownndte Kunst Wllnur Sakrcllr. um 1820. Üshrrulchlschus Museum für ungewlndh Knnsi Wohl der eindrucksvollste und charakteristischste Zeuge für das handwerklich und künstlerisch hochstehende Tischler- gewerhe Wiens im 18. jahrhundert ist der Tabernakelschrank, der als eine Kombination von Kommode, Sekretär und Aufsatz- kasten sich in vielfältiger Weise verwenden läßt. Als ein archi- tektonisches Gebilde mit breitschwingenden und gebrauchten For- men sind in ihm die barocken Stilelemente mit bürgerlicher Behäbigkeit vereinigt. Versehiedenfnrbigc einheimische Holz- arten und reizvolle Maserungen zeigen den Sinn für Effekt. Sorgfältige Einlegearheiten und gediegene Ausführung machen das große technische Können anschaulich. Auf die geschwungenen Formen der theresianischen Zeit folgen die gradlinigen, einfach-strengen Möbeltypen der josephinisehen Epoche und des Klassizismus. In der reinen Zweckform des Möbels kommen in erster Linie die Gesetze der Konstruktion zum Ausdruck. Als spärlichcr Dekor dienen Ornamente aus dem wiederentdeckten Formenschatz der Antike. 19