Am 23. Jänner 1710 bestätigte Kaiser Josef I. den ersten Zunft- hrief der „Bruderschaft der Sammet-, Gold- und Silberbrocab, Seiden- und Halbseidenmacher" der in Wien ansässigen Meister und schuf damit die erste rechtliche Grundlage dieses Industrie- Zweiges in Wien. Die Anfänge der Seidenweberei in Österreich lagen damals bereits fast ein halbes Jahrhundert zurück. Ein weitblickender, genialer Mann, Dr. Johann Joachim Becher hatte bereits in den sechziger Jahren des 17. Jh. die ersten Anregun- gen hiezu gegeben und auch die ersten Gründungen von Fa- briken unternommen. Wenn auch diesen seinen Versuchen der praktische wirtschaftliche Erfolg versagt blieb und vor allem die von ihm gegründete Seidencompagnie nur von kurzem Be- stand war, so ist seiner Initiative doch, vor allem durch die Be- rufung ausländischer Meister und Gesellen nach Österreich, die bleibende Ansiedlung dieses Industriezwciges in den österreichi- schen Erblanden und vor allem in Wien zu danken. Schon in der ersten Hälfte des 18. Jh. nahm sich dann der Staat mit wachsendem Interesse der Förderung und Hebung der Sei- denweberei an. Vor allem durch die Verleihung kaiserlicher Privilegien, die für eine bestimmte Zeit die Erzeugung einer ncuen Warengattung einem Unternehmen allein vorhehielten, wie auch durch Geldunterstützungen zu Fabriksneugründungcn wurden vor allem aus den oberitalienischen Seidengebieten, dann aber auch aus Frankreich und Deutschland Meister und Ge- seilen nach Österreich gezogen. Das erste Jahrhundert der österreichischen Seidenindustrie verdankte damit seine wesent- lichsten Anregungen von außen kommenden Meistern und Vor- bildern. Die möglichst getreue Kopierung fremder Waren bil- dete in qualitätsmäßiger und künstlerischer Hinsicht das erste Ziel dieses neuen Gewerbezweiges, um mit den bisher in gro- ßem Umfang importierten ausländischen Stoffen in Konkurrenz treten zu können. Der große Aufschwung der Wiener Seidenweberei begann dann in der zweiten Hälfte des 18. Jh. Die Zahl der in Wien an- sässigen Meister hatte sich bereits verdoppelt, die Ausbildung von Lehrlingen, die allen vom Ausland eingewanderten Meistern zur Pflicht gemacht war, hatte die eigene Erzeugung auf eine breitere Basis gestellt und der allgemein fühlbare wirtschaft- liche Aufschwung nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges begünstigte auch hier einen raschen Aufstieg. Nach außen wie nach innen hin war der Staat unter der Regierung Maria The- resias und Josefs II. weiter tatkräftig um die Unterstützung der Seidenindustrie bemüht. Schutzzölle und Einfuhrverbote be- gannen den Zustrom ausländischer Waren allmählich zu ver- ringern, wenngleich die eigene Industrie noch keineswegs zur vollen Deckung des Bedarfes imstande war. Noch 1765 standen vor allem die reichen und schweren Seidenzeuge wie Brokate und Damaste an erster Stelle der gesamten Einfuhrziffern. We- sentlicher aher noch war die weitere Förderung im Lande selbst, die sich nun nicht mehr auf rein materielle Unterstützung ein- zelner Fabriken beschränkte. 1751 wurde die erste Manufaktur- oder Qualitätsordnung für Seidenstoffe erlassen, die sowohl die Masse und Qualität der einzelnen Warengattungen, wie auch die dafür bestimmten Arbeitslöhne festlegte und in den fol- genden Jahrzehnten immer wieder ergänzt und erneuert wurde. Von entscheidender Bedeutung, vor allem für die künstlerische Hebung der gemusterten Stoffe, war dann die Gründung der Dessinateurschule, die im Jahre 1758 auf Anregung des Fürsten Kaunitz als Teil der Akademie der bildenden Künste in Wien eingerichtet wurde. Lehrlinge und Gesellen wurden hier sowohl in künstlerischer Entwurfzeichnung, wie auch in der richtigen Umsetzung von Entwürfen in die tatsächlichen Webvorlagen, die carta rigata, unterrichtet. Erst durch diese auch zeichnerische Ausbildung der Meister und Gesellen wurde es möglich, sich von dem Kopieren ausländischer Muster mehr und mehr zu bc- freien. Tatsächlich gingen auch alle bedeutenden Fabrikanten der folgenden jahrzehntc aus dieser Schule hervor. In diese jahrzehnte fallen dann auch die Gründungen der ersten großen fabriksmäßigen Unternehmen in Wien, die dann weit bis ins 19. jh. ihre Bedeutung beibehielten, wie die Fa- briken von Beiwinklcr, Hebenstreit, der Brüder Mcstrozzi und der aus Deutschland eingewanderten Fabrikanten l-Iornbostel, Andreae und Bräunlich. Ihren Hauptsitz nahm die Seidenindu- strie in dem damals noch wenig verbauten Gebiet des heutigen Schottenfeldes, das davon für lange Zeit den Namen „Brillan- tengrund" erhielt. Diese Konzentration in einem der Wiener Vororte war zweifellos von großem Vorteil. Trotzdem herrschte vor allem auf staatlicher Seite die Tendenz, größere Industrie- unternehmen in der Provinz und auch direkt auf dem flachen Lande unterzubringen, um die dort günstigeren und billigeren Wohn- und Lebensbedingungen auszunützcn. Gerade für die Seidenindustrie erwies sich dieser Weg jedoch trotz vieler Ver- suche als ungangbar. Die Schwierigkeiten der Verbindung mit den anderen Hilfsgewerben, wie der Spinnerei oder Färberei, der Beschaffung geeigneter Arbeitskräfte, wie auch des Waren- absatzes zwangen auch große Unternehmer nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder zur Rückkehr zumindest in die Nähe der Hauptstadt. Mit diesem raschen Aufstieg und der Entfaltung der ersten großen Fabriken strebte gerade die Scidenwcbcrei schon früh einer richtigen Industrialisierung in Großbetrieben zu. Im- mer starker traten schon um 1800 die großen Fabriken gegen- über den einzelnen Meistern und kleinen Gewerbetreibenden als crdrüekende Konkurrenz in den Vordergrund. Der durch die Kriegsereignisse bedingte Ausfall, vor allem der französischen Seide als Konkurrenz, schuf hier zunächst günstige Bedingungen für einen weiteren Aufstieg. In der Zeit zwischen 1790 und 1810 wurde aber damit die Not- wendigkeit einer grundlegenden Neuordnung dieses ganzen In- dustriezwciges sowohl seinem inneren Aufbau wie auch seiner Stellung innerhalb der staatlichen Verwaltung nach zu einem im- mer drängenderen und schwierigeren Problem. Die schon in dieser Zeit beginnende Tendenz zu Freiheit und Liberalität be- günstigte die ersten Ansätze einer kapitalistischen Wirtschafts- form auch von staatlicher Seite her. Die kleineren Gewerbetrei- benden befanden sich demgegenüber durch das Festhalten an vielen alten Einrichtungen, wie den Resten und Auswirkungen der Zunftordnungen auch in einem prinzipiellen Gegensatz. In langwierigen Verhandlungen und oft erbitterten Kontroversen, die nicht so sehr von den praktisch Beteiligten, den Fabrikanten und Meistern, sondern vor allem innerhalb der staatlichen Stellen geführt wurden, in denen sich ebenso zwei prinzipiell entgegengesetzte Meinungsgruppen gegcnübcrstandcn, gewann in diesen zwei jahrzehnten trotz vieler Rückschläge die li- beralistische Wirtschaftsauffassung doch allmählich die Ober- hand. Vorkämpfer dieser neuen Ideen war vor allem die Hof- kammer, deren Maßnahmen gerade für die Seidenindustrie für die nächsten Jahrzehnte von entscheidender Bedeutung wurden. Als besonders erschwerend und hemmend machten sich dabei neben rein wirtschaftlichen Schwierigkeiten politische Gesichts- punkte geltend, die viele rein kommerzielle Fragen auf das Gebiet der innerpolitischen und besonders der polizeilichen Maß- nahmen verschoben. ln zwei wesentlichen Fragen aber siegte die neue Wirtschafts- und Handelsform über die alten An- schauungen: Einerseits ging die alte zunftmäßige Auffassung, die immer wieder auf eine Beschränkung der Zahl der Meister