DAS ARCHIVO GENERAL DE INDIAS Von GUSTAV FESTENBERG In der Nachbarschaft der Kathedrale zu Sevilla, in der Christoph Columbus seine letzte Ruhestiitte gefunden hat (vier Überlebens- große Slawen aus Erz, die vier dankbaren Königreiche, tragen seinen Sarg auf ihren Schultern), steht die ehemalige Börse, ein strenger, von Juan de Herrera erbauter Renaissancepalast, in dem das Archivo General de lndias untergebracht isL-Nirgcnds fühlt man Sendung und (iröße Spaniens tiefer als hier. In mehr als dreitausend mächtigen liaszikeln werden alle Dokumente und Akten über Entdeckung, Liroberung, Besiedlung, Christianisie- rung und Kultivierung der Neuen Welt aufbewahrt. Das wenige davon, das unter Glas in Vitrinen und Wandtafeln zu sehen ist, genügt, uns mit Bewunderung und Staunen zu erfüllen. Welche Kraft, welcher Auftrieb muß diesem Volk innegewohnt haben, daß es in demselben Jahr, in dem es den achthundertjährigen Kampf gegen die Araber siegreich zu Ende führte, sich auf- maehte, neue Wege nach Indien zu finden und dabei auf den vierten Erdteil stieß! Von dem Abkommen zwischen König Ferdinand und Columbus im Jahre 1492, dem Vertrag zwischen Spanien und Portugal über die beiderseitigen Grenzen innerhalb der neuen Welt, einem er- staunlich weitbliekenden Dokument, aus dem man auf eine frü- here Kenntnis und Besitzergreifung Portugals in dem südlichen Amerika (Brasilien) schließen wollte, nehmen wir schrittweise an den kühnen, vom ersten Augenblick an zielbewußten Aktionen der Eroberer teil. Wir sehen eine Karte von Cuba und Hispaniola (Haiti), die Columbus von Guanahani (San Salvador) kommend, auf seiner ersten Reise entdeckte. Ein eigenhändig geschriebener Brief an seinen Sohn Fernando (1494), eben den, der die un- schätzbarc Bibliothek seines Vaters der Kathedrale von Sevilla vermachte, unterrichtet über die Fährnisse der zweiten Reise. Daneben ein Plan von San Domingo, das er anstelle des zer- störten liorts Isabella auf seiner dritten Reise gründete. Wir lernen, daß Columbien zuerst Nueva Granada, Los Angeles Nueva Espania hieß (1538). Mit Ponce de Leon betreten wir Florida und bcliicheln die Landkarte, die es als Insel zeigt (1512). Cortez ', 'r0, beide in der Provinz Estremadura geboren, sind durch Briefe und Berichte vertreten. Der Plan der Stadt Lima, von Pizarro 1535 gegründet, mutet wie die Abbildung einer Spiel- zeugschachtel an. Jedes Haus ist in seiner Farbe wiedergegeben und es fehlt nur, daß seine Bewohner aus den Fenstern schauen. Gleich daneben überrascht uns ein phantastisches Bild (man will es nicht eine Karte nennen) des Amazonas, auf dessen Quellen der Bruder Pizarros, Gonzales, bei seinem Übergang über die Anden stieß, und dessen Wassern er sieh mit seiner beherzten Schar anvertraute. Zwei Jahre später, nach unendlichen Strapazen und Entbehrungen, denen der Großteil der Mannschaft zum Opfer fiel, erreichte er die Mündung. Dann ein Dokument über die Entdeckung Californiens, „einer dürren, waldlosen Halbinsel" von Cortez (1533), wohl einer seiner letzten Berichte; denn bald danach fiel er in Ungnade und wurde nach Spanien zurück- beordert, wo er Jahre später (1547) einsam und unbeachtet in der Nähe von Sevilla starb. Diese ersten fünfzig Jahre nach Entdeckung der Neuen Welt haben wohl mehr Abenteurer in Spanien hervorgebracht als die tausendfünfhundert Jahre seit Christi Geburt. Aber man muß verstehen: plötzlich war da ein Land von unabmeßbarer Größe sozusagen aus dem Nichts, aus dem Meer emporgetaucht, ein Erdteil mit unausschöpfbaren Schätzen, himmclstürmenden Ge- birgen, maßlosen Strömen, endlosen Ebenen, unbegreiflichen Be- wohnern. Und man brauchte bloß die Unbilden einer Seereise auf sieh und den Degen in die Faust zu nehmen, um alles dessen teilhaftig zu werden. Wie hätte da die Jugend eines Landes, das die Arbeit geringschätzte, den Kampf liebte und allem Phanta- stisehen zugetan war, nicht zugreifen sollen? Und nicht nur in Spanien. Wie fünfhundert Jahre früher die Christenheit von dem Gedanken der Wiedercroberung des Heiligen Landes, so wurden jetzt die seefahrenden Völker Europas von einem Entdeckungs- fieher ergriffen. Mit einmal ließ ihnen die Vorstellung, daß da jenseits der bekannten Kontinente noch unbekannte, unbetretenc existieren könnten, keine Ruhe. Doch sehr bald schon - man muß es zur Ehre Spaniens sagen - werden die kriegerischen Ahenteurerbriefe von den sauber und klar verfaßten Memoranden der Mönche abgelöst. Da sind vor allem die Instruktionen des Franziskanergenerals aus dem Jahre 1526, vorläufige Richtlinien, die dann durch Papst Paul III. im Jahre 1537 bestätigt und erweitert wurden. Im selben Jahr 1526 wird ein Bischofssitz in der Provinz Tlaxcala (Mexico) errichtet, im Jahre 1534 unter dem Bischof Juan de Zumarraga die Kathe- drale in der Stadt Mexieo begonnen. Aus einem Bericht der Pa- dres Bustameme und de la Pena (1561) an König Philipp II. treten uns die Vorkommnisse und Zustände in Mexico entgegen. Die Weisungen Philipps II. an den Vizekönig Don Francisco de Toledo aus dem Jahre 1568 gelten vor allem der Christianisie- rung der Eingeborenen. Man hat sich später darin gefallen, die Ungerechtigkeiten, Härten und Grausamkeiten, die natürlich unterliefen, dem Macht- und Goldrausch zur Last zu legen, der die Eroberer ergriff. Doch steht heute außer Zweifel, daß die erste und vordringlichste Sorge der Ausbreitung der Herrschaft Christi auf Erden, der Errettung der heidnischen Seelen galt. Wir Heutigen wissen, daß es ohne Härten und Grausamkeiten nicht abgeht. Haben wir doch genug davon miterlebt und aus weit unedleren Beweggründen, um weit niedrigerer Ziele willen! - Vier Orden haben sieh vor allem um die Bekehrung der „Indianer" bemüht: die Franziskaner, die Dominikaner, die Ka- puziner und die Jesuiten. Ihre Missionskarten nehmen eine be- sondere Stellung ein. Da ist ein Plan von Altenpcc aus dem Jahre 1580, prächtig wie ein Gemälde; eine Ansicht von La Plata von Alonso Maldonado (1609), von Carthagena von Pater Claver (1619), vom Golf von Mexico und von Buenos Aires (1677), Grund- und Aufriß der Kathedrale zu Guadalajttra (1689), eine Karte des Mississippi (1699), von Manila (1720), der Insel Juan Fernandez (1726), Nuevrt Mexieo (Arizona) (1727), alle von Franziskanermönchen gezeichnet. Daneben Karten der Jesuiten von den Gebieten von Moxos, Chiquitos und dem angrenzenden portugiesischen Gebiet (1764). Aus den Jahren 1766 und 1770 liegen Berichte der Kapuzinermission in Venezuela auf und aus derselben Zeit die Aufzeichnungen der drei großen Kolonisa- toren Californiens Junipero Serra, Pedro Font a Monterrey und Pedro liages. Bilder und Beschreibungen von den Trachten, Tän- zen, Hütten, Tempeln der Eingeborenen, ihren Lehensgew0hn- heitcn, Heilmitteln, ihren religiösen Zeremonien, ihren Göttern und Götzenbildern mit genauer Erklärung ihres Wesens und XVir- kungskreises. Nicht geringer ist das statistische Material. Eine hydrographische Karte von Peru könnte heute verfaßt sein, ein Bericht über die Schwierigkeiten bei Eintritt des Winters und ihre Bekämpfung aus dem Jahre 1706 beweist geradezu modernes Verständnis. Und wieder Pläne von Brunnen, Monumenten, Parkanlagen, die bezeugen, wie bemüht man war, sich auch in der Fremde mit Schönheit und Reichtum der Heimat zu umgeben. Die Entwürfe und Genehmigungsurkunden der Landes- und Stadtwappen von Cuba, Puerlorico und beinahe allen Staaten und Städten Südamerikas, wie sie heute noch geführt werden. Land- 26