Der Gösser Ornat bringt hier die früheste bekannte Darstellung des Einhorns in dieser speziellen Bedeutung als Inkarnations- symbol. Dies gibt den besten Beweis für die Annahme einer sym- bolischen Bedeutung auch bei den anderen Tierbildern, unter denen das Einhorn mehrfach wiederkehrt. Eine ähnlich konkrete Ausdeutung scheint auch für das eigen- artige Motiv des kleinen Bäumchcns mit dem darauf sitzenden Vogel neben dem Thron der Madonna im Mittelbild des Ante- pendiums möglich, das ebenso wie die anderen behandelten Mo- tive des Ornates bisher entweder als dekoratives Beiwerk oder an Hand des Physiologus als Paradicsesbaum „Peridexion" gedeu- tet wurde. Näherliegend scheint nun eine Verbindung zu den zeitgenössischen religiösen Schriften, den Legenden zum Leben Mariens zu sein. Bei Wernher von Tegernsee im Anfang des 13. jh. und anderen Legenden über die Vermählung Mariens heißt es immer wieder, daß der Stab, den Abiathar Joseph über- gab, grünte und eine Taube von ihm emporstieg, die eine Weile über den Häuptern der Menge schwebte. Das reichhaltige maria- nische Programm, das wie bei der Verkündigung durch Taube und Einhorn oder durch die hohen Lilien zu Seiten des Thrones Mariens auf dem Pluviale immer wieder gerade durch Symbole der Reinheit und jungfräulichkeit Mariens bereichert wird, er- scheint damit hier noch einmal im gleichen Sinn erweitert. So unmöglich es heute erscheint, eine bis ins einzelne gehende Erklärung des ganzen durch Symbole dargestellten Programmes des Gösser Ornates zu geben, so gibt das noch Deutbare schon einen Einblick in cin großes Gedankengebäude typisch spät- romanischer Prägung. Aus der Verwendung vieler alter Quellen und zeitgenössischer theologischer Spekulationen entstand die- ses bedeutende Werk, das die klare und strenge Fassung eines einheitlichen Themas zu Gunsten einer Reichhaltigkeit durch Verbindung verschiedener Vorstellungen ersetzt. In großartiger Weise führt dieser Ornat in Bildern und Symbolen ein großes Programm christlicher Heilslehre vor Augen. NIEDERÖSTERREICHS SCHLÖSSER IN GEFAHR Der rcizvolle Dornröschenschlaf vieler Burgen und Schlösser sollte nicht darüber hinwegtäusehen, daß diese Bauten einst po- litische und kulturelle Zentren waren, von denen aus dms Land organisatorisch durchgliedert wurde. Die verschiedenen Funk- tionen, die - militärischer Schulz, Hochgerichtsbarkeit, Maut- und Zollrecht - von den Burginhabern erfüllt werden mußten, prägten das Aussehen und die Gestalt der Burgen. Die Ritter- sitze waren der Ausdruck der Tatkraft ihrer Herren. Dörfer, Märkte und Kleinstädte zählten zur Grundherrschaft. Die Herr- schaft über Städte, Straßen und Bergwerke bildete mit den Er- trägnissen aus den Ländereien die finanzielle Grundlage der lan- deshirstlichcn Burgen und Schlösser und war gleichzeitig ein wichtiger politischer Faktor. Die Stellung der Burgen und Schlösser als Kraftzentren des po- litisch-sozialen Gefüges der damaligen Zeit ermöglichte es, daß sie sich zu so großen und prächtigen Anlagen entwickelten, wie sie sich heute unserem Auge noch darbieten oder aus spärlichen Mauerresten erkennen lassen. An manchen Schlössern haben jahrhunderte gebaut. Im Laufe der Zeit änderte sich die Zweck- bestimmung immer mehr. Zu den trutzigen, mit Wehranlagen Abb. l. Schloß Marchegg in Niederösterreich. Marchegg, das aus dem 13. jahrhundert stammt und später barock umgebaut wurde, war nach dem letzten Krieg dem Verfall bereits preis ben, als die kleine Gemeinde Marchegg das durc Kriegsein- wirkung schwer geschädigte Schloß erwarb und damit - vorläufig wcnigsbens - rettete.