Von GERHARD SC] {MIDI Die Entwicklung dessen, was wir als „moderne Kunst" bezeich- nen, war in Wien stets einer doppelten Gefahr ausgesetzt. Auf der einen Seite stand ein sehr konservativer Geschmack des brei- ten Publikums und der öffentlichen Stellen jeder radikalen künstlerischen Leistung mifltrauisch, ja feindlich gegenüber - Waldmüllers Zerwürfnis mit der Akademie und die Ablehnung der Fakultätsbilder Klimts durch die Universität sind nur die bekanntesten und unverständlichsten aus einer Reihe ähnlicher Beispiele -, auf der anderen Seite verführte die hohe Formen- kultur in Dingen des alltäglichen Lebens, die einem blühenden Kunstgewerbe als Nährboden dient, auch die Künstler dazu, ge- fällige und konziliante Lösungen formaler Probleme selbst dort anzustreben, wo die kräftigsten und unbedingtesten gerade recht gewesen wären. So dürfte es keinem aufmerksamen Beobachter entgangen sein, auf welch seltsamen Umwegen gewisse moderne Stilformen im Laufe der letzten zehn Jahre in Wien eingebürgert wurden: erst mußte ein Pseudo-Surrealismus zweiten Ranges die Plakatwand und eine zur bloßen Dekoration verkümmerte un- gegenständliche Malerei das Espresso erobert haben, ehe nur cin Bruchteil des Publikums bereit schien, viel beachtenswerteren Vertretern der gleichen Kunstrichtungen auch in Ausstellungen mit Interesse zu begegnen. Angesichts dieser Situation dürfen wir es als ermutigcndes Zei- chen betrachten, wenn kürzlich sogar über öffentlichen Auftrag ein Projekt verwirklicht wurde, das weder durch Banalität des Themas, noch durch Charakterlosigkeit der Formensprache dem Durchschnittsgeschmack cntgegenzukommen schien. Die schon seit Jahren mit einigem Erfolg als Mäzen wirkende Gemeinde beauftragte den Maler Herbert Tasquil, die vier Stockwerke der Volksschule in Wien II, Czerninplatz 3 (Architekt Prof. Oswald I-Iaerdtl), mit Wandbildern zu versehen. Die geringe Stockwerkhöhe auf der einen und die Geräumigkcit der etwa quadratischen Stiegenabsätze auf der anderen Seite be- dingten das querrechteckige Format von etwa 2,5 zu 6 Metern. Die Gemälde sind von den Stiegenläufen aus im Schrägblick, von den Korridoren aus aber frontal zu sehen. Das Licht fällt von links, durch die Fenster des Stiegenhauses, ein. Eine be- stimmte richtungsmäflige Orientierung ist solcherart weder ge- boten, noch möglich: die Kompositionen müssen unter mehreren Blickwinkeln wirksam bleiben, sie sind nicht tektonisch auf den Bau, sondern ästhetisch auf den Raum bezogen, und setzen far- bige Akzente in die sonst zweckmäßig-nüchterne Anlage. Die Ausführung erfolgte in Dispersionsfarben, die eine fresko-ähn- liche Oberflächenwirkung besitzen und zugleich gewissen praktischen Erfordernissen (Abwaschbarkeit und Kratzfestig- keit) entsprechen. Nachdem wir diese technischen Daten mitgeteilt haben, müssen wir die künstlerische Position derartiger Malereien überprüfen. Sie gehören -- zunächst - in jenen größeren Komplex von Be- strebungen, welche die Kunst aus der einstigen Programmatik revolutionärer Manifeste befreien wollen und damit gerade für die Situation um die Mitte unseres Jahrhunderts repräsentativ sind. Wir wollen uns hier der ein wenig abgenützten - wenn auch handlichen - Terminologie enthalten, die jeder Gruppe oder Richtung, ja oft nur einer Reihe parallel orientierter Ex- perimente den Titel eines „Ismus" verleiht. Begnügen wir uns mit der Feststellung, daß in der heroischen Phase der „Moderne" zu Anfang des Jahrhunderts gewisse Kategorien geschaffen wur- den, die seither gültig blieben und somit als Stilqualitäten der Gegenwartskunst im weiteren Sinne angesprochen werden dür- fen. Zu ihnen zählen: Ldie Ablehnung der Augenwirklichkeit (d. h. aller - auch im weitesten Verstandr - illusionistischcn Effekte), wie sie als verbindliche Konvention des künstlerischen Sehens von der Renaissance bis zu den lmpressionistcn in Gel- tung stand; 2. die bewußte Anwendung bestimmter, von den na- türlichen Erscheinungen unabhängiger Form- und Farbqualitäten zur Verwirklichung der künstlerischen Absicht; 3. die Emanzipa- tion des Kunstwerkes von der objektiven Natur auch in dem Sinne, daß jenes nun nicht mehr aus dieser, sondern aus einem kunst-immanenten, subjektiven und psychologischen Bereich seine Gleichnisse und Symbole bezieht; und {eine Akzentver- schiebung in der Inhaltszone der Künste, wo nun ein mehrschich- tiger Komplex aus Form- und Sinnelemcnten an die Stelle des konkreten und eindeutigen „Themas" tritt. Zu dieser letzten Kategorie muß, um Mißverständnisscn vorzu- beugen, noch einiges angemerkt werden. Was wir meinen, wird ohne weiteres vor einem jener mehr oder weniger ungegenständ- liehen Bilder klar, die mit gleichem Recht sowohl als „Kompo- sition", wie auch-beispielshalber-als „Totenklage" bezeich- net werden dürfen: es gibt negativ gestimmte Form- und Farb- melodien, die sowohl an sich, wie auch als ungefähre Gleichnisse konkreter Situationen bestehen können. Jedoch stellen sich Bc- denken ein, wenn wir die offenbar sehr subjektiv pointierten Produktionen expressionistischer oder surrealistischer Künstler betrachten, deren Thema einer jeweils ganz besonderen Erlebnis- situation entspricht und daher durchaus „eindeutig" wirkt (man vergleiche subjektbezogene Titel wie Chagalls „Ich und das Dorf"). - Hier begegnen wir einem grundlegenden Paradox der modernen Kunst: ihre betonte Subjektivität hat zugleich all- gemeine Gültigkeit, weil das subjektive Erleben zu einem Be- standteil des Massenbewußtseins und damit letzten Endes zu einem „objcktiven" Thema geworden ist. Während der Malerei seit der Renaissance auch das Allgemeine oft unversehcns ins Besondere geriet (so etwa, wenn eine Madonna die Zügeeiner vom Künstler durchaus irdisch verehrten Frau annahm), ergeht es dem Modernen gerade umgekehrt. Er mag seine höchst in- dividuellen Erfahrungen preisgeben wollen und wird dabei doch nur ein psychologisches Modell schaffen, das auf der ganzen zivilisierten Welt anderen, ähnlichen individuellen Erlebnissen unterlegt werden kann. Die formalen Mittel der Gegenwarts- kunst gestatten - auch in den expressiven Richtungen - nicht mehr jene Präzision der Aussage, die Einmaligkeit verbürgt. Sie beziehen stets auch den Betrachter als einen Interpreten ein, der Eigenes hinzu-sieht, hinzu-denkt und hinzu-fühlt. Vielleicht entspricht diese Eigenschaft der modernen Kunst, the- matisch vage und eben deshalb auch an jedermann gerichtet zu sein, ihrer Anpassung an eine historische Situation, die vorn Be- wußtscin mondialer Zusammenhänge und von der Erkenntnis, in „einer Welt" zu leben, bestimmt wird. Wie man die Musik schon längst als eine internationale Sprache empfindet, so könnte es auch im Bildbereich zur Entstehung eines Kunst-Esperanto kom- men, das zwar Elemente der differenzierten Sprachen integriert, zugleich aber soviele ursprüngliche Wortwurzeln enthält, daß es jedermann -- wenigstens teilweise - verständlich bleibt. (Auch hier wird die weitreichende Verstehbarkeit mit einem Verlust an Präzision und nuanciertem Ausdruck erkauft.) Als derartige gemeinverständliche Wortwurzeln im Bereich des Optischen können alle jene Zeichen und Formqualitäten gelten, 95