HERBERT BOECKUS GROSSER GOBELIN Von CLAUS PACK Einer der geistig-künstlerischen Brennpunkte des österreichi- schen Pavillons in Brüssel ist ohne Zweifel der gewaltige „Tep- pich des Lebens" von Herbert Boeckl. In langer Arbeit - die Webarbeitcn allein nahmen ein Jahr in Anspruch - ist hier ein Werk entstanden, das sich in Größe und Eigenart der Konzeption nur mit den Seckauer Fresken Boeckls und in der Kraft der Durchführung nur mit den besten Beispielen zeitge- nössischer Gobelinkunst vergleichen läßt. Es bedeutet für Öster- reich etwas völlig Neues; die revolutionäre 'l'ztt, die in ihm zu- tage tritt, bricht mit einer sterilen Tradition und setzt einen Be- ginn, der Herausforderung und Verpflichtung zugleich bein- haltet. Selten ist das Wesen des Wandteppichs in der heutigen Zeit so klar erkannt, dem Material eine derartige Transparenz und Aus- druckskraft abgerungcn worden. Eine schwebende Schwerelo- sigkeit überzieht das Gewebe, eine durchsichtige Leichtigkeit die Gestaltung, die ein feimtbgcstimmtes Gleichgewicht hält. Der Teppich ist licht und geweitet, von größter musikalischer Zart- heit, einer wohlgestimmten Temperatur. Die Dynamik des alle- gorischen und symbolischen Geschehens der Darstellung ver- bindet sich mit subtilster Ausgewogenheit zur künstlerischen Aussage. Neue Formen treten hier an die Stelle abgebrauchter Formeln und steigern das Erlebnis zu einem sinnvollen Ganzen. Gegliedert wird der Teppich durch mächtige blaue und violette Lebensräder, die ihm, sich in wechselnden Höhen von links nach rechts bewegend, den ornamentalen Rythmus geben. Borten mit einem gegeneinander versetzten Stabornament säumen ihn oben und unten in wechselnder Stärke ein. Auf dem Grund gelb- grauer, zart lilagrauer. in allen Nuancen variierter Flächen ent- wickelt sich das Geschehen, das von weißen, in sich wieder in den maniierten Tönen abgewandelten Figuren, Gestalten im höchsten Sinn, getragen wird. Ihre Bcwegtheit gibt den Rädern einen deutlichen Kontrapunkt und verankert sich mit den {einen Beziehungslinien, die den Teppich durchkreuzen, zu einem Netz äußerster Gespanntbeit. Was in ihm geschieht ist Para- digma, Gleichnis, Weltaspekt und unmittelbare künstlerische An- schauung. Herbert Boeckl erläutert ihn wie folgt: „Den Auftakt bildet der links von oben hereinspringendc Herold. Halb Gcwappneter, halb Clown ist er Spielansager und Verkün- der und trägt ein flammendes, geflügeltes Szepter. Er tritt aus dem ersten Lebensrad, er ist der Bote des Schicksals - cin grünes Gitter hinter ihm verrät seine Herkunft. Selbst cinsl; Gefangener, ist er nun frei, wird zum Kommentator des Über- wundenen. Von ihm weg nach rechts bewegt sich in iähem Schritt ein ano- menhalter Mensch, seine Arme zur Huldigung erhoben. Sie gilt einer leuchtenden Frauengesmlt, die, unter einem Arkadenbogcn stehend, ihren Mantel auseinander schlägt, um ihre strahlende Nacktheit zu entblößen. Am Halse trägt sie eine riesige Spinne: Gleichnis des Netzes, dessen Mittelpunkt sie selbst bildet. Sie nimmt die Huldigung des Gnomes an, weil sie, dem biologischen Gesetz gehorchend und dem tricbhztit Starken und Echten ver- haftet, an diesem ihr Wesen erfüllt. Ihrer Ablehnung verfallen ist die nächste Figur, die aus der Höhe abstürzt wie aus dem Dach eines Zeltes. Es ist der in ein Nar- rengcwand gekleidete Intellektuelle, der hier im buchstäblich- bildlichen Sinn seinen Kopf verloren hat und ihn in seinen Hän- den wie auf einem Teller hält. Sein jähcr Absturz treibt ihn in das Lebensrad - das Schicksal. Neben ihm versinnbildlichen schwindende Perpentikel sein Gebundensein an den Verstand, an die Zeit. ' Vom Radc weg entschwebt, gellügelt und verstümmelt, an ein Detail aus dem von Her- bert Boeckl geschaffenen Gobelin.