Abb. 6: Henne und Kücklcin (9 Jahre) Abb. ' : Kopfweh der Hexe (6 Jahre) Denn hat das Kind von der frühen Kindheit bis zur Pubertät aus seiner unbewußten Fülle die Erwachsenen gleichsam zu speisen und, wenn schon nicht zu führen, so doch wenigstens die offenen und bereiten Geister unter ihnen in sein Traumland zu „entführen" vermacht, so fängt jetzt erst die eigentliche Gegenleistung der Erwachsenen an. Sie haben die zum Teil noch ziemlich hilflosen Tapsch- und Krapschversuche der er- wachenden und neugierigen Ratio des Kindes mit größter Be- hutsamkeit an die Schwelle eines geistigen Bewußtseins heran- zuführen. Daß hierzu mehr gehört als eine lehrhafte Wissens- stcii-Vcrmittlung, versteht sich wohl von selber, wie es auch nicht nötig ist, erst ausdrücklich darauf hinzuweisen, wie außer- ordentlich empfindlich das Kind in der Pubertät in seinem sozu- sagen unverschalten und damit ungeschützten Zustand ist. Greifen wir von hier aus auf dic Frage des Bildnerischen zurück, so hört also im gleichen Maße, in dem die Ratio erwacht, das Spiel der unbewußten Äußerungen und Sichtbarmachungen aus einer noch ungebrochenen und beherrschenden Innenwelt auf, weil die Besitz ergreifen wollende Hinwendung zur äußeren Realität alle Energien und Impulse für sich in Anspruch nimmt. Zugleich aber ist mit diesem Begreifen wollen auch schon der erste Schritt oder wenigstens die sachliche Voraussetzung zu einem erkennenden Tun gegeben, das die vorher in völliger Unschuld und Instinkthaftigkeit verwendeten bildnerischen Mit- tel nun langsam mit Überlegung einzusetzen nicht nur mög- lich, sondern auch zu einem verlockenden Abenteuer macht, sofern der Lehrer, der Erzieher es selber als ein solches ver- steht und zu vermitteln weiß. Hier muß man sich darüber klar sein, daß das Kind vor der Pubertät eigentlich noch gar nicht wirklich auf Entdeckungen und Abenteuer ausgeht, sondern auch das „Hänschen klein", das „in die weite Welt hinein" geht, nur einen Aspekt seiner Innenwelt mit einem anderen vertauscht. Das Kind läßt sich einfach von den Elementen oder, wenn man es poetischer haben will, von den Flügeln des Wunders tragen. Es gehört sich also noch gar nicht selber, sondern, durch seine Innenwelt, dem tatsächlich wunderbaren Erlebnisbereich der Märchen und der Träume an. Erst mit der Pubertät wird dieser Traumkontakt durchschnittcn. Das Kind fällt aus den Wolken auf die Erde, und jetzt erst wird das wirkliche Einzel-Ich geboren, für das eben die Entdeckungen und die Abenteuer beginnen, die immer ein Frcmdsein und zugleich die Sehnsucht und den Willen, es zu überwinden, zum Grunde haben. Die richtigen Konsequenzen hieraus für die bildnerische Erzie- hung oder Schulung zu ziehen, wäre ungleich leichter, wenn man die entsprechenden Vorstellungen nicht immer gleich mit solchen von der „Kunst" verquickcn wollte. Natürlich muß man dem jungen Menschen nicht nur kunsthistorische Daten, son- dem auch die Kunst an sich vermitteln oder doch zu vermitteln trachten, wobei der Grad der bildnerischen Wachheit für das Verständnis für die Kunst von nicht geringer Bedeutung ist. Denn Kunst, die ja keineswegs das Mitbringsel von einem olym- pischen Spaziergang, sondern das Ergebnis eines schweren Rin- gens um die Form ist, wird von einem bildnerisch geweckten Menschen hegreiflicherweise leichter aufgenommen als von dem, der bloß Bildinhalte vergleicht und wertet. Doch ist es ein Irrtum, wenn nicht gar grober Unfug, das hildnerische Tun des jungen Menschen auf irgendeine und sei es eine noch so ver- schämte Weise als ein „künstlerische-s" anzupeilen. . Gerade nach der Pubertät nämlich geht es im Bildnerisehen statt um fertige „Werke" vor allem um das Experiment, das heißt um die Ausweitung und Vertiefung der Erfahrung von den Mög- lichkeiten im Bildnerischen selbst. Handcltc das Kind vorher gewissermaßen aus dem Magnethereich des Bildnerischen her- aus, so muß es jetzt mit wachsender Überlegung und bewußter Bereitschaft sich in seinem universalen Kraftfeld zurechtfinden, 30