Eine moderne Wiener Wohnung FRANZ W'INDlSCH-(}R.ÄE'I'Z DIESMAL BRINGEN WIR BILDER EINER WOHNUNG, BEI DEREN EINRICHTUNG BEWUSST AUF DIE VERWENDUNG ALTEN MOBILIARS VERZICHTET WURDE. DAFÜR HANDELT ES SICll AUSSCHLIESS- LICH UM SOLCHE MOBEL, DIE VON WIENER ARCHITEKTEN IN NEUER UND NEUESTER ZEIT ENTWORFEN WURDEN. Wer die großen Architekturzeitschriften auf die darin, enthaltenen Interieurs hin ansieht, wird feststellen kön- nen, daß zum überwiegenden Teil Wohnungen abge- bildet sind, die durchwegs von Architekten geplant wur- den; schon gar, wenn es sich um die Inneneinrichtung eines Einfamilien- oder Landhauses handelt. Ohne Zwei- fel sind diese Wohnungen wegen ihrer künstlerischen Geschlossenheit als vorbildliche Leistungen und wich- tige Dokumentationen der modernen Innenarchitektur anzusehen und somit als Anregungen von höchstem Wert. Aber sie stellen doch in jeder Hinsicht hohe Ansprüche und gehen von verhältnismäßig exklusiven Voraus- setzungen aus. In der Mehrzahl der Fälle verhält es sich doch so, daß man, was die Raumverhältnisse anlangt, vor gegebenen Tatsachen steht, mit denen man sich, abge! sehen von geringfügigen Veränderungen, abfinden muß; und daß man dann die Einrichtung der Wohnung selbst in die Hand nimmt, sie nach eigenem Gutdünken und Geschmack gestaltet. , Bei der abgebildeten Wohnung handelt es sich um einen solchen Fall. Sie befindet sich in einem alten Haus der Wiener Innenstadt, das von den monumen- talen Bauwerken des Barock umgeben ist. Ihre Räume haben Ausmaße, die den Ansprüchen und dem Lebens- gefühl einer völlig anders gearteten Zeit, dem wohl- situierten 19. Jahrhundert mit seinem herrschaftlichen Aufwand, entsprachen; und dennoch ist es möglich ge- worden, in dieser Umgebung und unter diesen Bedin- gungen eine Wohnung entstehen zu lassen, die ganz und gar den Stempel unserer Zeit und der heutigen Lebens- art trägt. Die Einrichtung der beiden Zimmer, die wir zeigen, umfaßt Möbel, die aus den letzten vier jahr- zehnten stammen. Dabei waren die Besitzer der Woh- nung bemüht, für deren Möblierung ausschließlich solche Stücke zu verwenden, die von namhaften Wiener Ar- chitekten und Künstlern entworfen worden waren. Da gibt es einen Rahmen von Dagobert Peche, dem Antipoden Josef Hoffmanns in der Wiener Werkstätte. Denn Peche versuchte. die Sachlichkeit, der sich jene Zeit verschrieben hatte, mit barocken Formen, Remi- niszenzen an die große Wiener Vergangenheit, zu ver- schmelzen. Diese kontradiktorische Verbindung von kühler Strenge und bewcgtem Ornament gibt allen sei- nen Werken eine Note preziösen und perfekten Kunst- gewerbes. Wie ganz anders ist der Charakter der Lehn- sessel von Josef Frank. lIier geht es vor allem um die Bewältigung der praktischen Erfordernisse in klarer Form. Jede Einzelheit ist daraufhin durchdacht und alles zu einem wohlproportionierten Ganzen gefügt. Aber auch hier ist in der Anlehnung an angelsächsische Vor- bilder ein traditioneller Einschlag verarbeitet. Es be- steht kein Bruch mit der Vergangenheit. sondern Kon- tinuität. Obwohl 30 Jahre älter als die übrigen Möbel, fügen sie sich harmonisch der Umgebung ein. Denn auch bei dem aus den späteren und letzten Jahren stammen- den Mobiliar geht es stets um das gleiche Prinzip, - der Funktion ohne jeden Aufwand mit ruhigen Formen zu dienen, die dem Auge wohltun. Dabei - und das ist formgesehichtlich nahelicgend, - sind Anklänge an die Möbelkunst des Klassizismus, was die Feingliedrigkcit und die betonte Wirkung schöner Holzflächen betrifft, nicht von der Hand zu weisen. Da diese Möbel die Mo- derne nieht utriert und modernistisch verspielt dar- stellen, können wir ihnen das Zeugnis einer für unsere Zeit gültigen Formgebung ausstellen. Allen Möbeln die- ser Wohnung ist gemeinsam: die Schlichtheit und das Wienerische, das bei aller Zeitniihe doch die Vergangen- heit nie ganz aus den Augen läßt. Hier berühren wir den Punkt, warum wir unsere Leser mit dieser Wohnung bekannt machen: weil hier mit Erfolg der Versuch unter- nommen wurde, eine harmonische Ensemblewirkung zu erzielen und weil diese Einrichtung eine ausgewählte Dokumentation der Wiener Möbelkunst der letzten dreißig Jahre bildet. 21