Spätestens seit der „Erfindung" simultaner Malerei durch die Kubisten und Futuristen und dem damit verbundenen Versuch, einem neuen Weltbild oder Weltgefühl einen adäquaten Ausdruck zu geben _ seit den ersten, noch tastenden Schritten, das Urgründige und Universale durch Vorstöße ins Unbekannte, Unbezeichnete und Gei- stige der absoluten Malerei sichtbar werden zu lassen, haben sich die Maßstäbe für die Beurteilung zeitgenös- sischer Malerei verändert. Vorher aber schuf sie sich. jene Gesetze, denen sie seit etwa fünfzig Jahren unterliegt und die zu untersuchen oder zu erkennen notwendig sein wird, wenn man neuen Versuchen der Objektivie- rung veränderter Seh- und Empfindungsweise gerecht werden will. Mit der Betrachtungsweise, wie man sie herkömmlicher Malerei entgegenbringen kann, kommt man der Malerei der Tachisten, der emotionellen Malerei der Informellen nicht nahe genug, um ihr Wesen. ihre Gründe und ihr Wollen zu begreifen - um sich eine Handhabe dafün zu bilden, das Ungare und Fahrlässige von den guten. Leistungen zu trennen. Trotz der Kriterien, die man für sie wie für jede andere Art des Malens theoretisch auf- stellen kann, wird es jedoch viel weitgehender als bei jener dem empirischen Empfinden überlassen bleiben, wie und unter welchen Aspekten man sie einschätzt; dieses Empfinden ist so unerlaßlieh, daß sein Fehlen gegenüber dieser freien, ein wenig anarchistischen Ma- lerei wohl von einem völlig beziehungslosen Gegenüber- stehen begleitet wird. Ein rein empirisches Betrachten dieser motorischen Malerei ist aber schon insofern be- rechtigt und angebracht, als damit dieselben Regungen ins Spiel geführt werden, die auch für das Entstehen der Bilder einen Hauptkoeffizienten bilden. Der Entstehungs- prozeß eines tachistischen Bildes ist der Eruption eines Vulkans vergleichbar: alle angestaute Seelenlava wird in einem mächtigen, konzentrierten Anlauf hervorge- Schleudert, und die einzige Kontrollmöglichkeit besteht für den Maler im allgemeinen in einer ihm unbewußten, mit dem Schaffenswillen aus tieferen Schichten empor- steigenden Korrektur, die das Stück bemalter Leinwand davor schützt, nichts anderes zu sein, als eben bemalte Leinwand. Was aber ist informelle Malerei, wo beginnt sie, wie schreitet sie fort und wohin gelangt sie? Vieles von dem, was heute oft vergebens zu erreichen versucht wird und das zugleich den Beginn dieser psy- chischen Malerei bildet, sehen wir etwa in den Anfängen Kandinskys, in den farbigen, bewegten, spannungs- reichen, von Knäueln, Linien und Bogen beherrschten Bildgefügen seiner ersten, noch akonstruktiven Periode ungegenständlicher Malerei. Obwohl wir in ihr bereits einen Höhepunkt jenes Bemühens besitzen, das vorgibt, seinen Beginn bei Wols zu haben, hat die „lyriseh- abstrakte" Malerei, wie Mathieu sie nennt, Fortschritte gemacht und sich eine eigene Welt geschaffen, eine Welt voller Entdeckungsmöglichkeiten auch für den Be- schauer, und eine Welt, die den Mikrokosmos, Nebel- schleier und Protuberanzen, das Geflecht der Winden und Moose, Atmosphärisches und Überwirkliches, mate- riefrei Schwebendes in sich birgt: so in der pazifischen Schule der Amerikaner, bei Wols, bei Schumacher und bei manchen anderen _ in deren besten Zeugnissen. Mit diesem Blick gesehen, und alles Ungegorene, Halbe und Belanglose, das sich in dieser Art von Malerei wie in keiner anderen breitmachen konnte, beiseite lassend, nimmt die informelle Malerei einen beachtlichen Platz innerhalb der zeitgenössischen Malerei ein. Die Werke jedoch, von denen man behaupten könnte, sie blieben be- stehen, sind sehr rar. Vor jeder Ausstellung, in der man KRISTIAN SOTRIFFER GIBT ES EINE ABENDLÄNDISCHE KALLIGRAPHIE? Wege und Irrwege inlormeller Malerei 16