ADOLF LOOS: ZIM 90. Uliläl'R'l'S'TAG AM 10. DEZEMBER 1960 In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden in den europäischen Kunstzentren Zahlreiche Künstler- gruppen, die alle neue Wege suchten, um aus den über- holten und traditionellen Kunstrichtungen auszubrechen. In Berlin, München und Wien bildeten sich Seeessionen, die sich mit mehr oder weniger Aufsehen von den alten Künstlervereinigungen absetztcn. Die Wiener Secessionisten, die sich 1897 konstituiert hatten, demonstrierten ihre Modernität mit einem Är- gernis erregenden Bau gegenüber dem Naschmarkt und mit einer neuen Zeitschrift, die Ver sacrum - heiliger Weihefrühling - hieß. Sie fanden auch die prägnan- teste Formel für alle jene modernen Bestrebungen, die um die Jahrhundertwende rumorten: „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit." Mit großen Buchstaben setzten sie diese Devise über den Eingang ihres Domi- zils, das der Wiener Spott als „goldenes Krauthappcl" bezeichnete. Die Hauptführer der Scccssionisten kamen aus der Architekturschule Otto Wagners an der Wiener Akademie der bildenden Künste: der dreißigjährige Architekt der Wiener Seccssion josef Maria Olbrich und der sieben- undzwanzigjährige Josef Hoffmann. Die beiden waren Landsleute, die aus der böhmischen Provinz in die Hauptstadt der Monarchie gekommen waren. Ohne Mit- glied der Seeession zu sein, unterstützte der gleichaltrige Architekt Adolf Loos die Bestrebungen der Secessioni- sten. Er stammte aus Brünn, hatte in Dresden studiert und war nach einem Amerikaaufenthalt in Wien seß- haft geworden. 1899 hatte er nach seinen Idcen das Cafe Museum eingerichtet und wie Olbrich mit dem Seces- sionsbau einen Skandal ausgelöst. Seine Berufskollcgcn verspotteten diesen lnnenraum als „Cafe Nihilismus". Im juliheft des Ver sacrum von 1898 veröffentlichte Adolf Loos einen Beitrag, der den Titel trug: „Un- seren jungen Architekten". Damit griff er auch lite- rarisch in die Auseinandersetzungen über die moderne Architektur ein. Die Frage, die damals die Modernen beschäftigte, nahm er zum Ausgangspunkt seiner Ge- danken: „ist Architektur noch eine Kunst?" Unter den herrschenden Verhältnissen meinte Loos, es verneinen zu müssen. Der Staat und die Architekten selbst unter- grüben das Ansehen der Architektur. Diese aber kann nur eine Zukunft haben, wenn den Architekten der „moralischen Mut" leitet, „seine Überzeugungen allen finanziellen Anfechtungen zum Trotz kräftig zum Aus- druck zu bringen." Nur wenn er bereit ist, für seine Überzeugungen „hungern und darben" zu können, ver- dient er den „schönsten Ehrentitel", den „das Volk zu verleihen hat: Künstler". Adolf Loos hat diesen moralischen Mut, diese Überzeu- gungstreue in keiner Lebensepoche, in keiner Situation preisgegeben oder aufgeopfert. Selbst die Feindschaft mit seinen ehemaligen Kampfgenossen Olbrich und Hoff- mann nahm er auf sich. Als ein „unbequemt-r" Ein- zelgänger ging er seinen Weg „trotzdem" konsequent weiter. Immer wieder demonstrierte er literarisch und künstlerisch seine Ideen, fand aber hiefür mehr Ver- ständnis bei Dichtern, Malern, Musikern und Wissen- schaftlern als bei seinen Zunftgenossen. 1930, kurz vor seinem Tode (1933), zog der Sechzigjährige im Vorwort zu seinem Buche „Trotzdemf gleichsam in Vorahnung seiner Krankheit, das Fazit seines Lebens mit den Wor- ten: „Aus dreißigjährigem kampfe bin ich als sieger