Der phaniasiische Gemeindebau Polemische Bemerkungen zu einem Wiener Archiieklur-Kapifel jORG MAUTHE Die Wiener Kommunalwohnbauten der Zwanzigerjahre - im wiene- rischen Sprachgebrauch „Gemein- debauten" - sind steingewordene Resultate politischen Denkens, po- litischer Revolutionen und politisch- sozialer Veränderungen. Infdgedes- sen hat man sie stets unter poli- tischen Vorurteilen betrachtet: die politische Linke sah sie durch die Brille propagandistischen Stolzes, dic politische Rechte wandte sich schaudernd ab, denn für sie waren diese wuchtigen Baumassive Zeug- nisse politischer Niederlagen. Und diese Perspektiven haben bis heute eine sachliche Würdigung jener Bauleistungen unmöglich ge- macht. Dennoch, nach mehr als dreißig Jahren und einem Generations- Wechsel sollte man auch den Karl Marx- und den Engels-Hol mit küh- leren Blicken betrachten und end- lich begreifen, daß eben diese Ge- meindebauten in der Geschichte nicht nur der Wiener, sondern auch der europäischen Architektur ein wichtiges, faszinierendes und über- dies bewunderungswürdigcs Kapitel bilden. (Wir sprechen ausdrücklich nicht von den nach 1945 entstan- denen Wiener Gemeindebauten, die weit weniger bewunderungswürdig sind.) Um es gerade heraus zu sa- gen: man muß schließlich nicht notwendigerweise ein Monarehist sein, wenn man ein Faible für das Wiener Barock hegt _ und also auch nicht ein Sozialist, wenn man die Baublöckc am Margaretncr Gür- tel mit Bewunderung betrachtet. Natürlich kann auch drei jahrzehn- te später nicht bestritten werden, daß es sich bei diesen Gemeinde- bauten um politische Architektur handelt. Im Gegenteil: man kann sogar zugestehen, daß alle die be- geisterten und entsetzten Schlag- worte, mit denen sie zu ihrer Ent- stehungsezit verfochten und be- kämpft worden sind, zugetroffen haben und noch immer zutreffen - nur daß eben im Laufe der Zeit die affektive Beladenheit der Pro- und Kontra-Parolen geschwunden ist und aus Schlagworten Kriterien geworden sind. Man hat beispielsweise den Ge- meinde-Planern seinerzeit vorge- worfen, daß_ sie Arbeiterburgcn und Bürgerkriegsfestungen zu bauen ge- dachten. Und sie, die Baumeister, haben sich entrüstet gegen diese Be- hauptung gewehrt: nein, nicht Ar- heiterfestungenwolltensieerrichten, sondern menschenwürdige Massen- Wohnungen, ein „neues" Wien. Nun, stellt sich heute nicht heraus, daß beide Teile recht hatten? Frei- lich, es hat sich 1934 klar erwiesen, daß Karl Marx-Hof und Reumann- Hof als Fortifikationsanlagen im militärischen Sinn des Wortes nicht übermäßig viel taugten - sie wider- standen ja nicht einmal den altmo- dischen Feldhaubitzen des damali- gen Bundesheeres; aber andererseits sind diese Baublöcke ja doch Bur- gen und Hochburgen eines politi- schen Lagers gewesen und sind es heute noch, wenn man sie nämlich nicht auf ihren praktischen Zweck, sondern auf ihren Stil hin betrach- tet: diese kantigen Türme mit den schicßschartenartigen Dachluken, diese tiefen Torbögen mit den dra- matisch dicken Eisen- oder Bronze- gitlern, diese Zusammenstellungen von Betonklötzen und -kuben - ja, das sind doch eindeutige Hinweise darauf, daß hier der Begriff „Fe- stung" auf eine völlig neue und zeitgemäße Weise realisiert wurde, mag dies nun mit Absicht oder rein zufällig geschehen sein (aber der Zufall wäre nur dann glaubhaft, wenn man annehmen dürfte, daß die Architekten und Baumeister nie- mals eine charakteristische alle Burg gesehen hätten). Gewiß, aus diesen Gemeindebauten sollte nicht anders geschossen werden, als mit politischen Parolen und sie sollten 17