DIETER GROSSMANN Die jkbäne [Madonna 1'121 Louvre in Örlerreirla und ihre Verwandten Der Pariser Louvre erwarb im Jahre 1889 aus dem Kunsthandel eine Madonnenrigur aus grauem Guß- stein; sie ist 73 74 cm hoch, 30 cm breit und 19 cm tiefl). Die Figur wurde erstmals 1923 von Wilhelm Pinder im Zusammenhang mit den Schönen Madonnen gesehen, und in der Tat ist ihre Zu- gehörigkeit zu diesem Kunstkreis evident. Die Ab- bildung, die Pinder im _]ahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen geben konnte, täuscht jedoch beträchtlich über die tatsächliche Plastizität der Figur und gefährdet eine objektive Beurteilung Z). Unter den anerkannten Typen der Schönen Madon- nen ist es vor allem derjenige der Madonnen von Hallstatt und Krumau, dem die Louvre-Madonna nahesteht; noch enger sind die Beziehungen zur Pilsener Madonna, die als Hauptvertreterin eines eigenen Typs zu werten ist. Die Louvre-Madonna steht in einer leichten Schwingung, die durch den Zug beherrschender Falten als Doppelwellen- schwung, nicht nur als einfache S-Kurve zu emp- finden ist. Ihr Haupt ist leicht nach rechts geneigt, der Blick jedoch zum Beschauer gerichtet. Sie trägt mit beiden Händen das Kind vor dem Leib und bietet es dem Gläubigen dar. Ihr linkes Bein ist als Standbein zurückgesetzt, ihr rechtes Bein ist als Spielbein im Knie gebeugt und nach vorn gestellt, so daß die Fußspitze eine Ecke der breit-rechteckigen, vorn stark abgeschrägten Standplatte berührt. Dieser Haltung entspricht eine starke S-Schwingung in der Seitenansicht, besonders von links, in Entsprechung zu den Madonnen von Hallstatt, Krumau und Pilsen, die im Körpergefüge ähnlich aufgebaut sind. Die Madonna trägt ein langes Gewand, einen weiten Mantel und ein leicht über die Schultern hängendes Kopftuch; die einst gesondert gearbeitete Krone ist nicht mehr vorhanden. Das Antlitz ist lieblich im Ausdruck; in sanften Wellen schmiegt sich das Haar ihm an; das lebhaft gefältelte Kopftuch rahmt den Hals und gleitet auf und vor den Schultern herab. Der Mantel wird vor der Brust von einer kleinen, karoförmigen Agraffe zusammengehalten. Das Kind liegt sehr diagonal, fast schon in Querlage, und blickt auf den Apfel, den es mit beiden Händen (mit abgespreizten Daumen) vor seinem Leib hält. Die Beine sind parallel. Die Hände der Madonna sinken, wie bei der Mehrzahl der Schönen Madonnen, in das Fleisch des Kindes ein. Der Faltenaufbau wird durch den Stoffreichtum des Mantels bestimmt, der von beiden Unterarmen Mariens gerafft wird und in einer breiten Partie vor dem Leibe herabhängt. Als Hauptmotive sind zwei mittlere Schüsselfalten, eine diagonale Schlepp- falte und die seitlichen Kaskaden anzusehen. Diese Faltenkaskaden sind sehr zurückhaltend gebildet und ordnen sich auffallend glatt dem Umriß ein. Der Leib der Madonna scheint sich in der glatten Partie unter dem Kinde durchzudrücken, die von einer fast halbkreisförmigen Schüsselfalte gerahmt wird. Ihr folgt eine zweite, tiefer hängende, die durch das links vortretende Spielbein leicht nach rechts abgedrängt wird. Links von der Hüfte aus fallt eine breite Mantelpartie (deren unterer Saum erst beim Ende der linken Kaskade beginnt) diagonal vor den Körper und schleppt nach rechts hin aus. Das Knie drückt sich leicht durch und läßt eine weitere Falte entstehen, die über der Standplatte leicht nach links abknickt. Zwischen der Spielbeinhiifte und der äußeren Kaskade entsteht eine tiefe Furche, deren fast senkrechter Verlauf sich unterhalb des Mantels als linke Außenkontur fortsetzt. Aus dem rechts über den Unterarm hängenden Mantelteil entwickelt sich eine schmale, hochedreieckige Kaskadenpartie vor dem Standbein, das stark zurückgesetzt ist und durch eine Vertikalfalte im unteren Teil optisch unterstützt wird. Diese äußere Hängefalte rechts schließt sich jedoch mit der Diagonalfalte nirlyt zu einer Haarnaclelfalte zusammen. Der (iesarntumriß der Figur nimmt von oben her gleichmäßig zu bis zur Höhe der ersten Schüssel- falte, dann mäßig wieder ab bis zum Unterschenkel, endlich schwillt er zum Sockel hin mäßig wieder an. Auf beiden Seiten ist die Kontur in weiter, weicher Kurve geführt, an der alle Faltenzüge enden. Dadurch ergibt sich eine reliefhafte Wirkung, innerhalb derer die nicht unbeträchtlichen plastischen Höhen und Tiefen der Figur gefangen bleiben. Diagonalansichten der Figur, in auffälligem Maße die Diagonale von halblinks vorn, machen deutlich, wie wenig auf rundumführende Faltenzüge XVert gelegt ist. Die Figur scheint an den Kanten - sowohl vorn wie hinten 7 regelrecht umzubrechen. Gleich- wohl sind die reinen Seitenansichten wieder aus- gewogen. Auffällig wird hier, in wie starkem Maße das Kind parallel zur Vorderebene der Madonna getragen wird, ganz anders als etwa bei der Madonna von Großgmain (bei Salzburg). 7 Die Rückansicht der Louvre-Madonna zeigt einen einfachen und klaren Aufbau (alle „echten" Schönen Madonnen sind ja vollrund gearbeitet und haben eine klar ausgearbeitete Rückansicht). Es gibt bei den Schönen Madonnen zwei Grundtypen für den Aufbau der Rückseite. Im einen Falle gehen von der Schulter lange, kräftige Vertikalfalten aus, die erst kurz vor dem Erreichen der Standplatte nach den Seiten hin abbiegen (Thorn, ßreslaufFeichten, HallstattfKrumau, Franziskanermadonna in Salz- burg). lm anderen Fall entspricht der vorderen Raffung des Mantels durch beide Unterarme auch eine solche auf der Rückseite. Es bilden sich unter der Hüfte ein oder zwei kräftige Schüsselfalten, denen der Mantelsaum in annähernder Parallele folgt; die von der Schulter ausgehenden Vertikal- falten werden unter den Ellbogen abgefangen und nach vorn wieder hochgerafft. Unter dem Mantel- saum kommen einige Vertikalfalten hervor, die dem 15